16.04.2015, 15:00 Uhr

Mit Robotern der Evolution auf der Spur

Archäologen können ihre Funde vielleicht schon bald mit Daten von Tausenden von Proben vergleichen. ETH-Wissenschaftler entwickelten ein Robotersystem und präsentierten es nun an der Industriemesse in Hannover.
Radu Iovita ist Archäologe. Er erinnert sich noch gut an seine Studienzeit, als er für ein Taschengeld stundenlang mit Repliken von Werkzeugen, die man auf archäologischen Ausgrabungsstätten gefunden hatte, auf Tierfellen schabte. Durch die Analyse der Gebrauchsspuren unter dem Mikroskop wollten die Archäologen darauf schliessen, wie die Werkzeuge vor Tausenden von Jahren eingesetzt wurden. Diese Methode, unter der Bezeichnung «Gebrauchsspuren-Analyse» bekannt, ist heute in der modernen experimentellen Archäologie Standard. «Die manuelle Gebrauchsspuren-Analyse ist allerdings unglaublich zeitaufwendig, und vor allem können wir Faktoren wie die Kraft, mit welcher ein Werkzeug genutzt wird oder die Position, nicht kontrollieren», erklärt Iovita. Er suchte in den vergangenen Jahren immer wieder nach Möglichkeiten für kontrollierte Experimente. Ein erster Erfolg war ein System, das es ermöglichte, mit Luftkanonen die aufprallabhängige Abnutzung von steinzeitlichen Speerspitzen kontrolliert zu testen.

Archäologe und Robotiker spannen zusammen

Doch der Archäologe war auf der Suche nach Möglichkeiten, um sämtliche Werkzeuge und deren Anwendungsformen systematisch zu untersuchen – und dies möglichst automatisiert. Iovita, heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum Monrepos (RGZM-Leibniz Forschungsinstitut für Archäologie) in Neuwied, Deutschland, erinnerte sich an Jonas Buchli, Professor am Institut für Robotik und Intelligente Systeme der ETH Zürich. Die beiden hatten sich vor zehn Jahren während einer Summer School über komplexe Systeme kennengelernt. Der ETH-Professor war von Beginn weg begeistert von Iovitas Idee, archäologische Untersuchungen durch den Einsatz von Robotern zu automatisieren und die Messungen zu standardisieren.
Buchlis damaliger Masterstudent Johannes Pfleging bestückte Repliken von Steinwerkzeugen mit Sensoren. Und wie einst Iovita während seiner Studienzeit schabte Pfleging damit auf Tierhäuten, nur dass er dabei die Bewegungen und den Krafteinsatz vom Computer aufzeichnen liess. So erbrachte er den Beweis, dass mit den Sensoren wichtige Daten für die spätere Reproduzierbarkeit und den Vergleich von Experimenten gesammelt werden können. Aufwendig blieb die Gebrauchsspuren-Analyse aber trotzdem. Eine glückliche Fügung wollte es, dass just in diesem Moment die Firma Kuka einen Innovationsaward ausschrieb, und Leichtbau-Roboter mit Kraftsteuerung für innovative Forschungsprojekte zur Verfügung stellte. Diese Roboter zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr leicht sind im Vergleich zu ihrem Lastgewicht und dass sie die eingesetzten Kräfte innert Millisekunden dem erfahrenen Widerstand anpassen können. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Mit Roboterarm zur vollautomatisierten Analyse

Mit Roboterarm zur vollautomatisierten Analyse

Seit vergangenen Dezember steht ein solcher Kuka-Roboter in Buchlis Labor. Pfleging, mittlerweile Doktorand, hat den grauen Roboterarm mit sieben Freiheitsgraden auf einem Holztisch festgeschraubt. An der Armspitze steckt eine Plastikhalterung mit einem Holzstück, in das er eine Replik eines Steinwerkzeugs eingeleimt hat. Sobald Pfleging ein selbstgeschriebenes Computerprogramm startet, beginnt der Arm selbstständig mit dem Stein auf einem Stück Leder zu schaben, das auf dem Tisch befestigt wurde. Nach einigen Durchgängen biegt er sich und führt das Stück unter ein Mikroskop, das neben ihm auf dem Tisch steht. Auf Pflegings Computer erscheint nun das 80-fach vergrösserte Bild des Steins, auf welchem feine Abriebspuren zu entdecken sind. «Wir können mit einem solchen System nicht nur die mühsame Anfertigung von Gebrauchsspuren automatisieren, sondern auch die Analyse der bearbeiteten Replik», erklärt Buchli. Mehrere Roboter könnten einst 24 Stunden am Tag mit Werkzeug-Repliken auf Leder, Stein oder Holz schaben und das Werkzeug beispielsweise nach jeder 50. Stossbewegung unter das Mikroskop führen, um Bilder der Oberfläche zu schiessen. Dadurch liesse sich in Kombination mit den Daten zu Bewegung und Kraftausübung des Roboterarms später exakt rekonstruieren, wie bestimmte Abriebe zustande gekommen sind. «Mit solchen Analysedaten könnten wir künftig riesige Datenbanken anlegen, die sämtliche Charakteristiken von archäologisch relevanten Informationen zu Materialien und deren Abnutzungserscheinungen enthalten», erklärt Buchli.

Vertiefter Einblick in frühzeitliche Kulturen

Solche erweiterten Vergleichsmöglichkeiten haben das Potential, die Wissensproduktion in der Archäologie und der Paläoanthropologie zu beschleunigen. Bei einem interessanten Werkzeugfund könnten die Forscher ein Mikroskopiebild mit Tausenden von Datensätzen aus Abnutzungsexperimenten auf der ganzen Welt vergleichen und darüber auf die einstige Verwendung des Werkzeugs schliessen. «Wir haben uns in der Archäologie bisher vor allem mit der Morphologie von Gegenständen beschäftigt», erzählt Iovita. «Aber erst wenn wir die Verwendung von Werkzeugen kennen, können wir auch auf die damit verbundene Kulturform schliessen.» Zudem geht man heute davon aus, dass sich aus dem Werkzeuggebrauch und den dafür notwendigen kognitiven Fähigkeiten die frühzeitliche evolutionäre Entwicklung des Menschen erschliesst. Insbesondere in der Zeit zwischen 3 Millionen und 50'000 Jahren vor heute tappen die Wissenschaftler noch weitgehend im Dunkeln, was die Verwendung der damaligen Werkzeuge betrifft.

Paradigmenwechel im Gang

Derzeit erfährt Iovita noch relativ viel Gegenwind aus der eigenen Zunft. Die einen schwören darauf, dass manuell ausgeführte Experimente näher bei den einstigen Realitäten liegen, andere finden, dass die Gebrauchsspuren-Analyse die archäologische Theoriebildung generell nicht weiterbringt. Für Iovita hat dies vor allem damit zu tun, dass die meisten Archäologen einen geisteswissenschaftlichen Hintergrund haben und die Welt der Ingenieure nicht kennen. «Derzeit findet jedoch ein Generationen- und Paradigmenwechsel statt», ist er überzeugt. «Das Interesse an automatisierter Analytik wächst, und immer mehr Archäologen haben Zugang zu entsprechender Technologie.» Iovita stellt aktuell einen Antrag für die Errichtung eines Spurenlabors im Forschungszentrum in Neuwied, wo in zwei bis drei Jahren erste Gebrauchsspuren-Analysen mit Robotern durchgeführt werden sollen. Buchli und Pfleging haben ihr Robotersystem soeben im Rahmen des Kuka Innovation Award an der Industriemesse in Hannover vor Experten präsentiert. Als nächstes werden sie in ihrem Labor einen Prototypen eines Roboters entwickeln, der besser für den archäologischen Einsatz geeignet und gleichzeitig günstiger ist als gängige Leichtbau-Roboter mit Kraftsteuerung. «In zehn Jahren sollten robotergesteuerte Analysen in der Archäologie Standard sein», so Buchlis Vision. «Zum ersten Mal wären die Forschungsergebnisse dann wirklich vergleichbar, weil die Methodik dahinter standardisiert und die Geräte dafür kalibriert sind.»



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