Computerworld vor 30 Jahren 02.08.2021, 05:36 Uhr

Die neue Angst vor dem Blocksatz

Anfang der 1990er ging in modernen Schweizer Büros die Angst um. Nicht vor Jobverlust durch Computer, sondern wegen der Befürchtung, den PC nicht beherrschen zu können.
In Schreibstuben mussten Dutzende Handbücher studiert werden, um eine Textverarbeitung zu beherrschen
(Quelle: Computerworld-Archiv/Peter Heuss)
Textverarbeitungsprogramme waren vor 30 Jahren die am weitesten verbreiteten Software-Lösungen auf Schweizer Personalcomputern. Das sollte sich in den folgenden fünf Jahren nicht ändern, prognostizierten die Marktforscher von IDC 1991 an der ersten «Schweizer PC-Konferenz» in Kloten. «Allerdings wird das Umsatzvolumen für klassische PC-Standard-Software im Jahre 1996 um 23 Prozent niedriger liegen als 1991», liess sich IDC-Analyst Martin Milautzcki von Computerworld zitieren. Als Gründe führte er die dann zu erwartende Marktsättigung bei gleichzeitig hohem Wettbewerbsdruck an. Weiter erwartete der IDC-Experte, dass die Preise auf US-Niveau fallen würden.
Ein Blick ins Archiv der Marktforscher von Dataquest zeigt, dass Milautzcki und sene IDC-Kollegen sich nicht mehr hätten irren können. Der Weltmarkt für Office-Software wuchs auch 1995 noch um 57,5 Prozent. Er war mittlerweile 3,0 Milliarden US-Dollar schwer, wovon Microsoft allein 2,7 Milliarden umsetzte. Excel, PowerPoint, Word & Co. besassen einen Marktanteil von 89,4 Prozent. Das gerade von IBM übernommene Lotus 1-2-3 musste sich mit 7,1 Prozent begnügen, das neu von Novell vertriebene WordPerfect kam nur noch auf 3,6 Prozent. 1991 waren Lotus und WordPerfect noch die Marktführer bei Tabellenkalkulationen respektive Textverarbeitungen. Für die Programme wurden jeweils Preise jenseits der 1500 Franken aufgerufen.

«Sie kann zu viel»

Für den Preis wurde den Anwendern im modernen Büro des Jahres 1991 eine ganze Menge an Funktionalität geboten, konstatierte Computerworld. Nach einem Test der gerade in der Schweiz neu lancierten Textverarbeitungs-Software Word für Windows kritisierte die Zeitung: «Sie kann zu viel.» Die Programmierer hätten versucht, alle möglichen Eventualitäten, die beim Erstellen eines Dokuments auftreten können, mit ihren Produkten abzudecken. Das Windows-Programm sei nicht mehr zeichen-, sondern grafikorientiert, was ungeahnte Möglichkeiten in der Gestaltung von Dokumenten eröffne. Dies könne «leider» nur von einem Bruchteil der Anwender wirklich sinnvoll eingesetzt werden, bemängelte die Zeitung. «Für den grossen Rest bedeutet es in den meisten Fällen überhöhte Komplexität, die nicht einfach zu bedienen ist und die unter Umständen einer Sekretärin einfach Angst macht.»
Computerworld-Redaktorin Silvia Schorta wollte mit dem Test «speziell aus Anwenderinnen-Sicht» Sekretärinnen vor einer möglichen Überforderung bewahren. Das Protokoll zu Microsoft Word für Windows gibt einen amüsanten Einblick in Schweizer Büros anno 1991.

Textverarbeitung 1991

Microsofts Textverarbeitung kam in einem dicken Paket daher. Wie die Redaktorin mutmasste, seien «offenbar sechs Handbücher nötig, um den Anwender in die Geheimnisse des Programmes einzuweihen». Das Druckerhandbuch verunsicherte sie: «Es scheint offensichtlich so schwierig zu sein, einen korrekten Ausdruck eines Word-Dokuments zu erzielen, dass dafür eine Bedienungsanleitung von 36 Seiten notwendig ist.» Mit den übrigen Handbüchern zeigte sie sich allerdings durchaus zufrieden: «Der direkte Weg zu Word» war speziell für Umsteiger gedacht, die vorher mit Programmen wie IBM PC Text, Word für MS-DOS, WordPerfect und WordStar gearbeitet hatten. Das «Beispielhandbuch» brachte sie sogar zum Staunen, fand sie dort noch Anregungen, was mit Word für Windows alles möglich ist.
Vobis-Chef Theo Lieven (l.) und Hannes Keller harmonierten geschäftlich und am Klavier
Quelle: Computerworld-Archiv
Mit Beginn der Installation folgte die Ernüchterung: Nun wusste Schorta, warum sich eines der Handbücher allein um das Setup drehte. Es galt, den Inhalt von sechs Disketten auf die Festplatte zu bringen. «Da diese fein säuberlich mit gross angebrachten Zahlen durchnummeriert sind, nimmt man zwangsläufig an, dass sie auch in dieser Reihenfolge ins Laufwerk müssen – jedoch weit gefehlt», stellte die Redaktorin fest. Denn das Installationsprogramm rief nicht etwa nach den Nummern der Disketten, sondern nach den Namen. «Da die Installationsprozedur meist der erste direkte Kontakt mit dem Programm ist und somit auch der erste Eindruck», hätte sich Schorta hierbei vom Hersteller mehr Sorgfalt gewünscht.

Der erste Programmstart

Als die Redaktorin das Programm zum ersten Mal aufstartete, war sie beeindruckt von der Vielfalt an Knöpfen und Symbolen, die der Bildschirm präsentiert. Für die Benutzung von Word war dann einige «Fantasie» erforderlich, denn es erschlossen sich ihr nicht gleich alle Bedeutungen der Bedienelemente. Fettdruck, Kursivdruck oder Unterstreichen liessen sich direkt durch Mausklick einstellen. Und auch für gewisse Formatierungen wie Blocksatz, Zellenabstand etc. genügte ein Knopfdruck in der Kopfzeile.
Die Windows-Oberfläche brachte nicht nur Knöpfe auf den Bildschirm, sondern auch eine «echte» Vorschau auf das Dokumentenlayout. Der Fachbegriff lautet: WYSIWYG (What You See Is What You Get). Computerworld fand, die Realitätsnähe gehe «sehr weit». Selbst das Firmenlogo oder eine eingescannte Unterschrift könnten gleich mit in einen Brief integriert werden. Das Bild erscheine dann «1:1 sowohl am Bildschirm wie auch auf dem Ausdruck». Mit der Druckansicht könne das fertige Dokument als ganze Seite auch verkleinert am Monitor angeschaut werden. Proportionen und Layout liessen sich vorzüglich überprüfen und die Druckermakulatur um ein Vielfaches verringern.

DTP und DDE

Das Fazit zum Computerworld-Test lautete: «Mit Word für Windows hat man ein eigentliches Desktop-Publishing-System, das mit allen Segnungen der modernen Textverarbeitung ausgerüstet ist.» Die Funktionsvielfalt bringe jedoch auch mit sich, dass der Lernaufwand sehr gross sei, bis sich mit dem Produkt «vernünftige Resultate» erzielen lassen. Wer das Programm beherrsche, könne sich die Kosten für ein DTP-Programm getrost sparen.
Mehr noch: Im Zusammenspiel mit der Tabellenkalkulation Excel eigne sich Word auch als Reporting-Tool für die Geschäftssteuerung, so die Redaktorin. Hier schrieb sie der Textverarbeitung allerdings eine Funktion zu viel zu, denn der «Dynamic Data Exchange» (DDE, deutsch: dynamischer Datenaustausch) war ein Feature des Betriebssystems Windows 2.0. Es erlaubte Verknüpfungen zwischen (Word-)Dokumenten und (Excel-)Tabellen. Genau so konnten aber auch Daten in anderen Windows-Programmen verknüpft werden. Schorta erkannte das grosse Potenzial, das hier für die Betriebe schlummerte: Bestes Beispiel sei der monatliche Bericht des Filialleiters an den Hauptsitz. Der Bericht werde einmal getippt und mit Verbindungen zu den Arbeitsblättern der Tabellenkalkulation versehen. Verändere der Filialleiter im nächsten Monat die Umsatzzahlen in der Excel-Tabelle, würden die Werte im Bericht an den Hauptsitz automatisch mitverändert. Der Report müsse dann nur noch ausgedruckt und verschickt werden. Schöne neue Computerarbeitswelt.

Standard im modernen Büro

Der Testbericht zu Word könnte heute gleichlautend nochmals gedruckt werden. Dann würden einige Funktionen fehlen, ist das Programm doch in den vergangenen 30 Jahren noch viel mächtiger geworden. Und es hat seinen Platz ganz oben in den Verkaufslisten gefunden, ob nun aufgrund der Qualität, des Preises oder aus reiner Gewöhnung.
Microsoft hat es Anfang der 1990er verstanden, auf der Basis von Windows ein Büro-Ökosystem zu etablieren, in dem wir heute noch arbeiten (können). Damals war der Gates-Konzern noch einer von vielen Office-Anbietern, setzte mit Excel, Word & Co. allerdings schon früh den Standard. Die früheren Mitstreiter verpassten aus dem einen Grund (zuerst keine Windows-Version), dem anderen (fehlende Kompatibilität) oder dem dritten Grund (geringe Benutzerakzeptanz) den Anschluss, auch wenn sie funktional teilweise überlegen waren.
«Ways»
Paul liebt Silofutter
So gross der Funktionsumfang von Word schon 1991 gewesen sein mag: Wie fast allen anderen Textverarbeitungen auch fehlte eine Rechtschreibprüfung. Als eines der wenigen Programme brachte das Schweizer «Witchpen» auch diese Funktion mit. Der grosse kommerzielle Erfolg blieb jedoch aus. Das sollte sich 1991 ändern.
Zusammen mit der deutschen Firma eurologic innovative Software hatte der Entwickler und Informatikpionier Hannes Keller die Rechtschreibung in ein eigenes Programm ausgelagert. «Ways for Windows» liess sich in DOS- und Windows-Textverarbeitungen integrieren. Die Lösung war derart beeindruckend, dass Theo Lieven, Mitbegründer und Mitgeschäftsführer des deutschen PC-Discounters Vobis mit Keller einen Kaufvertrag abschloss: Ab Juli 1991 wurde «Ways for Windows» auf sämtlichen Highscreen-Computern von Vobis – damals rechnete man mit 250'000 verkauften Rechnern pro Jahr – vorinstalliert. Letztendlich sollten von «Ways» mehr als 3 Millionen Exemplare verkauft werden.
Im Kurztest von Computerworld wusste «Ways» zunächst jedoch nicht zu überzeugen: Bei der Eingabe von «Paul leibt Silvia» verbesserte das Programm zwar automatisch «liebt», bei «Silvia» schlug es aber unbegreiflicherweise «Silofutter» vor. Manche Fehler bemerkte das Programm überhaupt nicht – die Wörter mussten erst ins 250'000 Begriffe umfassende Wörterbuch eingetragen werden. Ausserdem wurde «muss» automatisch zu «muß» korrigiert – was hätte verhindert werden können, wenn das schweizerdeutsche Wörterbuch verwendet worden wäre, wie Computerworld eingestehen musste.



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