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11.11.2022, 15:48 Uhr
«Narrativ» – das missbrauchte Wort
Narrative haben grossen Einfluss darauf, wo und wie die digitale Transformation stattfindet. Die Empirie dahinter verstehen aber sogar viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht.
Das Konzept ist simpel und taucht bei vielen Autorinnen und Autoren auf, unter anderem bei Edgar Scheins Arbeiten zum Change-Management: Häufig erzählte Geschichten prägen die Kultur einer Organisation. Dabei sind konkrete Geschichten genauso wichtig wie abstrakte, die eine empirische Gesetzmässigkeit beschreiben. Bei abstrakten Geschichten, zum Beispiel wiederkehrenden Erklärungen für Entwicklungen, spricht man von «Narrativen». Nobelpreisträger Robert Shiller hat sie in seinem Buch «Narrative Economics» untersucht.
Trotz einigen prominenten Beiträgen aus den Wissenschaften lehnen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Thema ab. Ich habe erlebt, wie das Erforschen der im Unternehmen erzählten Geschichten als sinnlos abgetan wurde. «Wozu? Wen interessiert, worüber die Leute reden? Wie soll ich das feststellen?»
Im Laufe der Zeit ist daraus eine demagogische Verunglimpfung des Konzepts geworden («Narrativ ist doch nur ein Modewort!»). Gleichzeitig findet auch eine Aneignung des Begriffs zu moralischen Zwecken statt. «Man muss das Narrativ, dass Menschen verfügbare technische Werkzeuge immer nutzen werden, nicht akzeptieren», heisst es dann von Wissenschaftsseite. Das ist ein Trick. Denn dabei werden empirische Erfahrungen auf das reine Erzählen darüber reduziert, um sie zu widerlegen. Dass dies im Namen der Ethik geschieht, macht den Trick nicht besser. Zudem ist nicht jede Aussage ein Narrativ.
“Am Ende entscheiden Menschen über den Erfolg – und sie werden dabei von Narrativen gelenkt„
Reinhard Riedl
Narrative sind einfach verständliche Darstellungen komplexer Zusammenhänge, für die es keine klar belegbare Evidenz gibt. Beispielsweise steckt hinter der verbreiteten Meinung, dass traditioneller Journalismus keine Zukunft hat – sondern nur die kuratierende Tätigkeit der Redakteure – auch eine Verbrämung von Marshall McLuhans «The medium is the message». Dieses lautet neukalifornisch: «Nur die technische Plattform hat Wert, ihre Inhalte sind wertlos.»
Narrative wirken sinnstiftend, standardisierend und ideenleitend. Damit haben sie einen wesentlichen Einfluss darauf, wie die digitale Transformation stattfindet. Beispiel Gesundheitswesen: Der Begriff «Blended Care» stiftet einen anderen Sinn als der Begriff «DiGA». Blended Care strebt die Verbesserung von Therapiepraktiken durch Einbindung von Apps, Selbstvermessung und Telemedizin an. DiGAs werden als Therapien aus dem App-Store wahrgenommen. Vorerst durchgesetzt haben sich DiGAs. Sie werden sogar von jenen gefordert, welche die Zusammenarbeit mit jenen Digitalkonzernen verteufeln, die App-Stores betreiben.
Warum bei den Menschen das eine Narrativ erfolgreich ist und das andere nicht, ist eine wichtige Frage, wenn wir mit der digitalen Transformation das fachlich Sinnvollste realisieren wollen. Denn am Ende entscheiden Menschen über den Erfolg – und sie werden dabei von Narrativen gelenkt.
Der Autor
Reinhard Riedl
Beschäftigt sich mit digitalen Ökosystemen und leitet das transdisziplinäre Forschungszentrum «Digital Society» an der Berner Fachhochschule. www.bfh.ch/digitalsociety