08.09.2011, 09:19 Uhr

Fachkräftemangel in der Schweiz

Der Spezialistenmangel im ICT-Sektor ist nirgends so akut wie in der Schweiz. Zwar bemühen sich die Unternehmen um Image- und Nachwuchsförderung, aber lange noch nicht gründlich genug, wie sie selbst unumwunden zugeben.
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Der Fachkräftemangel ist und bleibt der Bremsklotz Nummer eins für den Aufschwung der Schweizer ICT-Branche. Bei 76,2 Prozent aller befragten Unternehmen steht dieses Problem in den nächsten zwei Jahren an erster Stelle – meilenweit vor den zu knappen Budgets. Ausserhalb der Schweiz ist die Situation entspannter als hier, da allein schon die höhere Arbeitslosigkeit ein grosses Interesse an interessanten IT-Arbeitsplätzen schafft. Während in Deutschland derzeit Diskussionen aufflammen, dem Fachkräftemangel zuerst mit einheimischen Arbeitnehmern Herr zu werden, anstatt IT-Spezialisten und Ingenieure en masse aus den östlichen Nachbarländern zu ordern, scheint in der Schweiz tatsächlich vor Ort nichts mehr zu holen zu sein. «Als weltweit tätiges Unternehmen stellen wir fest, dass der Fachkräftemangel in der Schweiz akuter ist als anderswo», bestätigt Adrian Schlund, Country Leader bei Oracle Schweiz. Daran, welche Fachrichtungen besonders dringend gesucht werden, hat sich übrigens im Vergleich zum letzten Jahr so gut wie nichts geändert. In den Bereichen Beratung und Consulting, Software-Entwicklung und -Architektur, Netzwerk und ERP-Projekte sind die offenen Stellen weiterhin am schwierigsten zu besetzen. Lediglich für Webpublishing und -design scheint es genügend Bewerber zu geben.
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Auf der nächsten Seite gehts weiter. Doch was tun die Schweizer Unternehmen, um dem Mangel an Spezialisten entgegenzuwirken und den Nachwuchs zu fördern? Ganz offensichtlich zu wenig. Zwar setzen 76 Prozent der Befragten auf Aus- und Weiterbildung innerhalb des Betriebs, werben 41 Prozent ihren IT-Nachwuchs an Hoch- und Fachhochschulen an und versuchen 65 Prozent, ein attraktives Arbeitsumfeld für ihre Mitarbeitenden zu schaffen. Doch punkto Imageförderung und Lobbying für IT-Berufe sieht es nach wie vor dunkelschwarz aus. Nur schlappe 16,7 Prozent der Befragten wollen in diesem Bereich tätig werden. Mit 14,4 Prozent scheint die Frauenförderung nahezu inexistent zu sein und von der Vergabe von Stipendien oder der Lancierung von Forschungsprogrammen will praktisch keiner (4 Prozent) etwas wissen. Wollen Schweizer Unternehmen nur profitieren, selbst aber nichts oder nur wenig für die Entwicklung der IT-Branche tun? Computerworld hat nachgefragt.  Nächste Seite: Trittbrettfahrer und Vorbilder

Trittbrettfahrer und Vorbilder

«Wie überall hat es sicher auch in der IT-Branche Trittbrettfahrer, die nur den Rahm abschöpfen», weiss Stefan-Essi Fischer, CEO vom Thalwiler IT-Dienstleister 1eEurope. Auf der anderen Seite gäbe es aber viele IT-Unternehmen, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Akquisition von IT-Nachwuchs oder für die Frauenförderung einsetzen. «Grundsätzlich ist nach wie vor ein grosser Teil der IT-Industrie in eher kleinen Unternehmen organisiert, was die Sichtbarkeit der umgesetzten Massnahmen sicherlich einschränkt», erklärt Fischer. In der Praxis würden aber gerade diese sehr viel tun, indem sie zum Beispiel Schnupperlehren anbieten, Lehrlinge ausbilden und – nicht nur für Frauen – geeignete Teilzeitarbeitsmodelle offerieren. «Es ist sicher so, dass viel zu wenig für die Nachwuchsförderung gemacht wird», gibt Patrick Burkhalter, Geschäftsleiter vom Zürcher IT-Dienstleister Ergon Informatik, unumwunden zu. Seine Forderung: mehr Lehrstellen, mehr Schnuppertage, mehr Anreiz für Informatikberufe in allen Schulstufen «und Firmen, die sich dafür engagieren». Ergon selbst ist bei der Nachwuchsförderung vorbildlich unterwegs: Aktuell bildet das Unternehmen fünf Applika­tionsentwickler aus, nimmt regelmäs­sig ETH-Praktikanten auf, organisiert Schnuppertage und Programmierworkshops. Zudem halten Ergon-Spezialisten Referate bei Förderprogrammen der ETH und der Haslerstiftung. Dass für die Nachwuchsförderung künftig mehr getan werden muss, dafür plädiert auch Angela Detlef, Recruiting Consultant beim Zuger Berater Pragmatica. «Das Thema wird in den Köpfen zunehmend präsenter. Es scheitert aktuell aber noch an der Umsetzung», gibt Detlef zu. Das Grundinteresse an IT oder generell an Ingenieurberufen sollte schon in der Primarschule geweckt werden, meint auch Patrik Stampfli, Head of Operations bei Elca Informatik. «Als KMU ist es aber schwer, dort aktiv zu werden», resümiert Stampfli. Elca hat sich immerhin im Rahmen der «Informatica08» engagiert und an Maturanden-Infotagen teilgenommen.
Markus Vitali, CFO von EMC Computer Systems, sieht das ganz ähnlich: «Die Wirkung von Massnahmen einzelner Firmen ist tatsächlich beschränkt und fokussiert sich primär auf die Steigerung der eigenen Attraktivität.» Branchen- und Fachverbände sowie Veranstalter von Tagungen und Messen würden solche übergeordneten Anliegen besser adressieren, meint Vitali. Deshalb sei es wichtig, sich als Unternehmen aktiv an diesen Kommunikationsplattformen zu beteiligen. «Die IT-Branche muss sich im Wett­bewerb um die Interessen der Auszubildenden besser behaupten», fasst Dr. Anton Meier, Geschäftsführer von GFT Technologies Schweiz, die Problematik zusammen. GFT hat sich den Slogan «inspiring IT» auf die Fahnen geschrieben und will versuchen, das Interesse an IT zu fördern und den grossen Einfluss der IT auf alle Lebensbereiche aufzuzeigen. «Gleichzeitig gilt es, jungen Leuten auch die internationalen Berufs- und Karriere­chancen in der IT zu erklären», so Meier.
Grundsätzlich bemühen sich viele Schweizer IT-Unternehmen schon im eigenen Interesse, den Nachwuchs zu fördern. Viele Mittelständler bilden wie der auf die Finanzindustrie spezialisierte IT-Dienstleister Inventx IT-Lehrlinge in der Fachrichtung Systemtechnik aus, stellen Praktikaplätze für Informatikstudenten zur Verfügung oder helfen im Rahmen eines Mentoren-Programms bei Diplomarbeiten. Auch 1eEurope betreut Semesterarbeiten. Das Systemhaus Bechtle bildet unter anderem in den Bereichen Systemtechnik und Applikationsentwicklung aus und bietet Praktikumsplätze sowie Schnuppertage an. «Mit unserer Strategie, die seit zwei Jahren läuft, wollen wir unsere Ausbildungsquote bis 2012 auf 12 Prozent erhöhen», sagt Margot Bürcher, Leitung HR und Berufsbildung bei der Bechtle-Gruppe Schweiz. Das Software-Unternehmen Adobe hat ein eigenes Entwicklungszentrum in Basel und unterstützt mit Lizenzprogrammen für Schulen diverse Bildungseinrichtungen mit vergünstigter Software zu Ausbildungszwecken. Oracle schliesslich bietet mit der «Oracle Sales Academy» eine renommierte Ausbildungsstätte für IT-Professionals in der Schweiz. Nächste Seite: Kooperation mit Hochschulen

Kooperation mit Hochschulen

Fast alle Unternehmen, die an unserer Umfrage teilnahmen, sind an Hoch- und Fachhochschulen aktiv. Das fängt bei Publikationen in Studentenzeitschriften an, geht über angebotene Praktika, Unterstützung bei Diplomarbeiten und Betreuung von Semesterarbeiten und endet bei Inhouse-Präsentationen, Tagen der offenen Tür und Recruiting von Studenten durch Studenten. Auch offene Werbung fürs eigene Unternehmen in Seminaren und Vorlesungen sowie die Durchführung sogenannter Boot Camps, in denen die Trainees das nötige fachspezifische Rüstzeug mitbekommen, stehen immer häufiger auf der Tagesordnung. Zudem liegt Recruiting via Social Media im Trend: «Wir geben den Talenten die Möglichkeit, sich direkt im sozialen Netzwerk mit Oracle auseinanderzusetzen, mit uns in einen Dialog zu treten oder sich gleich zu bewerben», führt Oracles Schweiz-Chef Adrian Schlund aus. Auch die Aus- und Weiterbildung innerhalb des Betriebes wird bei der Mehrheit der Unternehmen grossgeschrieben: Trainings, Seminare, Workshops, Mentorenprogramme, Knowledge Circle für Soft-Skills-Themen, Senior Consultants, die junge Absolventen nach dem Studium betreuen, oder Coaching in der praktischen Projektarbeit, um nur einige Massnahmen zu nennen. Dabei entwickeln die Unternehmen druchaus kreative Ideen. Bei Ergon sind die gut 100 Informatikingenieure beispielsweise für ihre Weiterbildung selbst verantwortlich, erhalten dafür aber jedes Jahr ein Zeit- und Geldbudget und alle fünf Jahre ein Sabbatical in Form von 20 Arbeitstagen. Einen anderen interessanten Ansatz verfolgt Inventx: Das Unternehmen wird im September ein eigens entwickeltes Game für seine Mitarbeitenden lancieren mit dem Ziel, die betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge, Prozesse sowie Unternehmenswerte spielerisch zu vermitteln und dabei auch Lösungen für tägliche Herausforderungen zu trainieren. Nächste Seite: Ausländer willkommen

Ausländer willkommen

Doch all das reicht nicht aus. Um dem Fachkräftemangel Herr zu werden, setzen fast alle Schweizer Unternehmen auf Spezialisten aus dem Ausland, allen voran aus Deutschland. Als attraktives Land mit hohem Lebensstandard zieht die Schweiz sowohl ausländische Arbeitskräfte als auch ausländische IT-Firmen an, die ihrerseits wieder Arbeitsplätze schaffen und eben auch nach Mitarbeitern suchen. Aus der Sicht von Anton Meier von GFT gewinnt die Schweiz durch den Unternehmenszuzug jedoch mehr, als sie verliert. «In der IT ist der Mangel an Fachleuten so gross, dass deshalb den Einheimischen keine Jobs weggenommen werden», sagt Patrick Burkhalter von Ergon. Trotzdem setzt das Unternehmen primär auf Schweizer Mitarbeitende und sucht auch nicht aktiv im Ausland nach Nachwuchs. Das ist eher eine Ausnahme. «Die Nationalität unserer Mitarbeitenden hat trotz unserer Verpflichtung zur Swissness nicht die oberste Priorität», erklärt Hans Nagel, Geschäftsführer von Inventx. Viel wichtiger seien die richtige Ausbildung, Skills und Erfahrung. Das Unternehmen rekrutiert vermehrt Ingenieure aus dem benachbarten Ausland – aber explizit für das Inland: «Wichtig ist uns, dass die Arbeitsplätze an einem unserer Standorte in der Schweiz geschaffen werden», erkärt Nagel. Letztlich seien Fachkompetenz, sprachliche Möglichkeiten und die Fähigkeit, sich in die Firmenkultur zu integrieren, entscheidender als die Herkunft eines Mitarbeiters, meint auch Markus Vitali von EMC. 1eEurope setzt eher auf den Nearshore- bzw. Offshore-Ansatz: «Anstatt Leute hierher zu holen, bringen wir die Arbeit zu ihnen», sagt Stefan-Essi Fischer. Wichtig dabei sei, das Schweizer Leistungsportfolio so auszurichten, dass die hochwertigen Konzept-, Planungs- und Architekturleistungen hier erbracht und die Umsetzungsarbeiten delegiert werden können. Internationale Unternehmen mit bekanntem Namen haben es bei der Personalsuche oft etwas einfacher. Adobe muss sich zum Beispiel nach eigener Aussage nicht aktiv um Fachkräfte bemühen. Das Unternehmen profitiert von der Bekannheit seiner Marke sowie vom Standort Basel, der eine hohe Anziehungskraft habe, nicht zuletzt durch die ansässige Universität, die auch die Ausbildung von Informatikern vorantreibe, erklärt Angelo Buscemi, Country Manager von Adobe Schweiz. Als global agierendes Unternehmen befindet sich Adobe ausserdem in der glücklichen Lage, gute Mitarbeiter auch in den Ländern, in denen sie leben, beschäftigen zu können. Nächste Seite: Frauen, nein danke?

Frauen, nein danke?

Ein attraktiveres Arbeitsumfeld ist eine weitere Methode, sich die besten Spezialisten zu angeln. Unternehmen setzen heute vermehrt auf flache Hierarchien, Flexibilität in der Arbeitsweise (Homeoffice, Teilzeitarbeit), Transparenz (Kennzahlen, Saläre, Boni), moderne Sozialleistungen (beispielsweise Vaterschaftsurlaub), gute Lohnnebenleistungen sowie schnelle und individuelle Karrierechancen. Allerdings gibt es auch Grenzen, wie 1eEurope-CEO Fischer erklärt: «Der Arbeitsnehmer-Markt ist nun mal beschränkt und immer mehr verwöhnen geht schon aus Wettbewerbsgründen nicht.» Auch die IT-Branche habe mehr und mehr unter der Euro-Konkurrenz zu leiden, sagt Fischer. Die Deutschen können die Arbeitsstunde inzwischen zu knapp zwei Drittel der Schweizer Preise anbieten. Das setzt die helvetischen Unternehmen vermehrt unter Druck. Was unsere Frage hinsichtlich der Massnahmen zur Frauenförderung betrifft, schweigt sich die Mehrheit der Antwortenden trotzdem aus. Nur wenige grosse Firmen wie Oracle oder IBM versuchen, mit speziellen Frauenförderprogrammen aktiv eine Brücke zwischen den Geschlechtern zu schlagen. «Es ist unbestritten, dass die IT-Branche als Ganzes noch einen weiten Weg gehen muss, bis sie für Frauen ähnlich attraktiv ist wie für Männer», gibt Oracle-Schweiz-Chef Adrian Schlund unumwunden zu. Ansonsten wirken Standardantworten wie «Auch Frauen sind jederzeit willkommen» schon einen Hauch zynisch. Dabei gelingt jungen Ingenieurinnen und IT-Spezialistinnen laut der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften der Berufseinstieg ausgesprochen gut. Trotzdem sind sie in der Schweizer Technik-Arbeitswelt noch immer stark unterrepräsentiert. Laut empirischen Studien wird Frauen der Berufseinstieg nach wie vor erschwert und ihre Karrieren entwickeln sich langsamer und unbefriedigender als jene ihrer männlichen Kollegen. Dabei sind sie technikbegeistert, entscheidungsfreudig, belastbar, teamorientiert, kooperativ und wollen Verantwortung übernehmen. Ein ideales Profil für einen IT-Beruf. Viele Frauen finden den Einstieg in die IT-Welt auch über Kreativberufe, wie Angelo Buscemi von Adobe weiss. Unternehmen sollten also daran interessiert sein, solche Mitarbeiterinnen für sich zu gewinnen und ihnen geeignete Karrieren zu ermöglichen. Für die Schweizer IT-Unternehmen gibt es jedenfalls bei der Image- und Nachwuchsförderung noch viel zu tun.
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