Vom Broker zum Piloten 25.04.2019, 13:46 Uhr

Neue Rollen für den CIO

CIOs werden in Zukunft neue Aufgaben bekommen. Sie werden vielfältiger, aber anspruchsvoller sein als heute. Um diese zu bewältigen, helfen Methoden aus Sport, Luftfahrt oder Kunst. Eine grössere Rolle, als viele derzeit prophezeien, wird die Technik spielen.
Auf CIOs kommen neue Herausforderungen zu. Gemeinsam mit dem CDO und CTO steuern sie ihre Unternehmen in die digitale Zukunft. Solarflugpionier Bertrand Piccard bei einem Test im Jahr 2013: Piccard «flog» ohne Pause drei Tage und drei Nächte im Simulator als Vorbereitung auf den Langstreckenflug auf 9000 Metern Höhe um die Welt mit der Solar Impulse
(Quelle: Keystone/Walter Bieri)
Vor 15 Jahren gab ich der Computerworld ein Interview zur Rolle des Chief Information Officer (CIO). Die Blattmacher verdichteten das Interview zur Schlagzeile «Der CIO der Zukunft ist ein Broker». Seither hat sich sehr vieles verändert. Microservice-Architekturen, DevOps und Low-Code-Plattformen sind einige der wichtigsten Innovationen der letzten Jahre. Die einstige Pro­gnose hat sich aber zumindest teilweise bewahrheitet: Heute werden viel weniger IT-Ressourcen intern bereit­gestellt als früher. Externe Cloud-Dienste und Standard-Software werden auch in Grossunternehmen immer mehr zur Normalität. Zudem gehört zur modernen Datenbewirtschaftung, dass externe Daten eingekauft und interne Daten als Dienstleistung nach aussen verkauft werden. CIO-Teams verwenden zwar den Broker-Begriff selten, haben ihn aber verinnerlicht. Manche prophezeien sogar, dass von den Aufgaben der organisationsinternen IT nur der Broker-Job übrig bleiben wird. Technik würde im Aufgabenport­folio des CIOs nur mehr eine geringe Rolle spielen.
Ich sehe das anders! Erstens steht die grosse Zeit von Informatik und Mathematik erst bevor. Zweitens wird in grossen Teilen der Volkswirtschaft – und insbesondere im dynamischen Dienstleistungssektor – die CIO der Zukunft nur sekundär eine IT-Brokerin sein. Primär wird sie Vermittlerin von IT, Coffin-Corner-Spezialistin und unorthodoxe Qualitätsfundamentalistin sein müssen. Und sie wird daran gemessen werden, wie sehr sie die digitale Transformation inspiriert. Gleiches gilt natürlich auch für die männlichen CIOs, die wohl auch in Zukunft in der Mehrheit sein werden.

IT-Vermittlung

Quelle: IDC/Computerworld/ICT Analytics
Vermittlung ist eine Fachdisziplin, die ursprünglich im Bereich der Museen und der Kunst entstand. Gut ausgeführt schafft sie Interesse, Verstehenwollen und letztlich ein Begreifen des von ihr Vermittelten. IT-Vermittlung muss den Menschen vor allem Software nahebringen. Denn Software ist anders: Sie widerspricht sehr vielen Annahmen, von denen Menschen in unserem Kulturkreis in Bezug auf Maschinen ausgehen. Und sie widerspricht der etablierten Managersicht auf maschinelle Ressourcen. Nicht selten ist das Anwenden selbstverständlicher Managementkonzepte und das Befolgen scheinbar «logischer» Handlungsprinzipien das Dümmste, was man mit Software tun kann – beispielsweise, wenn man «nachhaltig» mit «dauerhaft» oder «langer Nutzung» gleichsetzt. Denn Applikationen werden und müssen laufend mit zusätzlichen Funktionen ergänzt, an Veränderungen im Betriebsablauf angepasst oder mal durch eine neue Lösung vorzeitig komplett ersetzt werden.
Aufgrund der Andersartigkeit von Software genügt es nicht, einfach Messungen und Checklisten einzuführen. Es ist zusätzliche Vermittlungsarbeit notwendig, die ein Begreifen der Zusammenhänge fördert. Diese Vermittlungsarbeit muss zuallererst auf Ebene der Geschäftsleitung geschehen. Mittelfristig sollte sie aber für alle höheren und mittleren Kader eines Unternehmens stattfinden, am besten sogar für alle Mitarbeitenden.

Coffin Corner Manager

Wandel erfolgreich durchzusetzen und Innovationen auf den Boden zu bringen, sind offensichtlich wichtige Auf­gaben der CIO. Doch wichtiger als die klassischen Tugenden wird es künftig sein, durch das Entwickeln kreativer Ideen und durch gute Zusammenarbeit, kritische Situationen zu meistern. Ein Vergleich mit dem Fliegen macht dies verständlich. Wer wenig darüber weiss, fürchtet sich beim Start. Wer mehr weiss, hat eher Angst bei der Landung. Wirklich gefährlich ist aber der sogenannte Coffin Corner, wenn sich in grosser Flughöhe das Intervall zwischen minimaler und maximaler Geschwindigkeit schliesst. Fliegt man nur etwas zu langsam oder ein wenig zu schnell, stürzt man unweigerlich ab. Im Coffin Corner geht also der Spielraum für ungenaue Entscheide und Handlungen verloren. Plötzlich kommt es darauf an, sehr genau das Richtige zu tun. Sicher durch den Coffin Corner zu steuern, heisst, das Weiterleben zu sichern – das gilt für Unternehmen ebenso wie für die Fliegerei.
Im Coffin Corner sind andere Führungseigenschaften gefragt als in unkritischen Situationen. Meist braucht es zwei komplementäre Kompetenzen: den kreativen Umgang mit sachlicher Komplexität und die Fähigkeit, bei Kolleginnen und Kollegen proaktiv Unterstützung zu finden. Hierfür muss man reflektiert denken, Ideen entwickeln und soziale Vernunft sowie Empathie an den Tag legen können.
Natürlich sollte man Coffin Corners ohne Not vermeiden, doch in der digitalen Transformation ist dies oft nicht möglich. Wer zu früh, zu langsam oder zu kostspielig agiert, den bestraft der digitale Umbruch. Früher gingen erfolg­reiche Unternehmen unter, wenn sie zu extrem agierten – sei es, dass sie zu sozial oder zu unternehmerisch aggressiv waren, zu ressourcenorientiert oder zu ideenorientiert, zu divers oder zu gleichartig. In Zukunft werden in vielen Märkten nur mehr Unternehmen mit extremen Geschäftsmodellen erfolgreich sein. Der Coffin Corner wird deshalb viel häufiger durchsteuert werden müssen – mit dem CIO und seinem Team in einer Schlüsselrolle.
Coffin-Corner-Instrumente: eine Auswahl
  1. Lebendige digitale Netzwerke über Abteilungs­grenzen hinweg: Verhinderung der Erstarrung bei ressourcenoptimierendem Management.
  2. Leistungs-Cockpits: Wahrung der Geschäfts­orientierung bei ideenmaximierendem Management.
  3. KI-basierte Teamzusammensetzung: Effizienz­steigerung in hochdiversen multi­natio­nalen Unternehmen.
  4. Virtuelle Spielwettbewerbe: Als Gegengewicht zur Balancierung – je nach Gestaltung der Regeln – sowohl leistungsorientierter als auch sozial orientierter Unternehmen.
  5. Messen, messen und nochmals messen: Zur Fakten­orientierung von Unternehmen mit starker kultureller, überzeugungsbasierter Prägung.

Qualitätsfundamentalismus

Qualitätsmanagement (QM) verlangt in der Praxis zwei Arten von Wissen: das Wissen um richtiges Handeln unter optimalen Bedingungen und das Verständnis, pragmatische Abstriche vom richtigen Handeln unter realen Bedingungen zu machen. In der operativen IT-Praxis sollte man nur dort über Verbesserungen im Qualitätsmanagement nachdenken, wo sich Probleme ergeben. Hingegen sollte das Qualitätsmanagement bei IT-Projekten bei der Vor­bereitung ganz vorn stehen und zwar als Startpunkt für jedwede Planung von Ressourcen.
Im Digitalisierungskontext ist ein unorthodoxer «Qualitätsfundamentalismus» notwendig. Fundamentalismus steht hier für konsequentes kontextabhängiges Entscheiden und Umsetzen, aber auch für die Durchsetzung von Massnahmen wie Verifizierung und Validierung! Beim Qualitätsfundamentalismus gilt es auf der Basis von Geschäftsmodell, Nebenwirkungen und Risiken, Mass zu halten. Zu viel Qualität ist zu teuer, zu wenig zu riskant und die falsche Art fördert den Crash.

Neue Mitarbeitende und mehr Vielfalt

Zwei Mitarbeitende im CIO-Team haben in letzter Zeit stark an Profil gewonnen: der Chief Digital Officer (CDO) und der Chief Technology Officer (CTO). Die CDO-Rolle ist verantwortlich für Vorreiterprojekte und für Experimente in Sachen digitaler Transformation – und bereitet so die Zukunft des Unternehmens vor. Die Kernkompetenzen müssen dabei im Betriebswirtschaftlichen liegen, ergänzt durch ein profundes Verständnis der IT als Enabler. Die Rolle des CTOs, oder auch des Chefinformatikers, ist verantwortlich für die Technologiestrategien, für gute Arbeitsumgebungen und eine adäquate fachliche Weiterbildung der IT-Mitarbeitenden und für zukunftsfitte Organisationsstrukturen. In Unternehmen, die noch nicht den Umstieg auf Microservices und DevOps vollzogen haben, muss zudem der technolo­gische und organisatorische Wandel geleitet werden. Das dient ebenfalls einer nachhaltigen Zukunftssicherung, ist aber eine viel techniknähere Aufgabe als die des CDOs. Die CTO-Rolle verlangt zwar auch betriebswirtschaftliches Wissen, vor allem aber echte Leidenschaft für die Informatik.
“Zur CIO-Rolle gehört, das Team aufzubauen und Brücken zum Business zu schlagen„
Reinhard Riedl
Zur CIO-Rolle gehört, das Team aufzubauen und Brücken zum Business zu schlagen, wo dieses in die Reorganisation involviert werden muss. Die Funktion ähnelt mal der eines Sport-Coaches, mal der eines Dirigenten. Sie verlangt ein tiefes Verständnis des grossen Ganzen, Empathie und Kreativität, technische und betriebswirtschaftliche Visionen, eine stringente Auslegeordnung und die Fähigkeit zum Inspirieren! Das geht nicht ohne Individualität! Deshalb wird es unter CIOs sehr viel mehr Vielfalt geben als bisher – von der «Elternfigur», die sich familiär um das Team kümmert, über die klassischen Technikmanager bis zu den schwer fassbaren Genies, die durch unverrückbare Kon­sequenz oder durch pure Kreativität die Menschen in ihrer Umgebung für sich begeistern. Dagegen wird die Nachfrage nach CIOs, die nicht angreifbar sind und sich sozial in der Geschäftsleitung gut einfügen, massiv zurückgehen. CIOs mit aussergewöhnlichen Stärken bringen einem Unternehmen mehr als solche ohne Schwächen.

Was wäre, wenn …

Was wäre, wenn die Thesen in diesem Beitrag richtig wären? Dann müssten sich CIOs danach beurteilen lassen, wie gut die Geschäftsleitungsmitglieder Software verstehen, wie oft sie unmögliche Aufgaben bewältigt haben und wie umfassend sie Qualität messen. «No way – unmöglich!» ist darauf vermutlich die erste Reaktion jeder und jedes CIOs. Doch das wäre vorschnell: Es ist nicht notwendig, in diesen Kriterien perfekt abzuschneiden. Es genügt, zu den Besten zu zählen. Und das ist derzeit noch gar nicht so schwer.
Methoden und Instrumente der IT-Vermittlung
  1. Das natürliche Wesen von Software mit Geschichten aufzeigen. Zum Beispiel:
    • Software altert schlecht.
    • Nachhaltigkeit bedeutet Ersetzbarkeit.
    • Transparenz heisst Verbergen überflüssiger Information.
    • IT-Kunden sind (fast immer) schlechte Könige.
    • Scheitern ist normal.
  2. IT-Praxis anhand von Beispielen und Demonstrationen erlebbar machen:
    • 3-Schritt-Design: Anforderungen erheben – Lösung entwickeln – Lösung gegen die Anforderungen validieren und mit Beispielen illustrieren.
    • 5-Schritt-Projektvorbereitung: 1. Hauptziele definieren sowie Nebenwirkun-gen und Lebenszykluskosten abschätzen. 2. Risiken identifizieren. 3. Risikoadäquaten Ablaufplan wählen. 4. Qualitätsmanagementplan definieren. 5. Ressourcenmanagementplan definieren.
    • Anti-Patterns: Oft wiederkehrende Praktiken, die nur unter wohldefinierten Ausnahmebedingungen zulässig sind, ansonsten aber grossen Schaden anrichten.
    • Engineering-Instrumente und Engineering-Rituale: DevOps Pipeline, Teleme­triedaten-Cockpit, A/B-Tests, Post-Mortem-Treffen, Game Days, Improvement Blitzes und vieles mehr.
    • Kreativitätspraktiken zum Mitmachen für alle: beispielsweise Hackathons oder Co-Creation-Workshops, kollektives Komponieren («Cage für Manager») etc.
  3. Kurse zu Digital Skills offerieren, etwa zu Themen wie:
    • Persönliche Nutzung digitaler Werkzeuge
    • Einsatz neuer Ressourcen: Machine Learning, Plattformen und Crowdsourcing
    • Einführung von Instrumenten zur Unterstützung extremer Organisations­formen
    • Praktizieren von Computational Thinking im Berufsalltag
    • Ethische Reflexion von IT-Einsatz und IT-Entwicklungsprojekten
Der Autor
Reinhard Riedl
ist Präsident der Schweizer Informatik Gesellschaft. Riedl beschäftigt sich mit digitalen Ökosystemen und leitet das transdiszipli­näre Forschungszentrum «Digital Society» an der Berner Fachhochschule.



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