IMS
29.05.2006, 20:08 Uhr
Die stille Netzrevolution
Der Weg zum transparenten Netz ist lang, aber dank IP Multimedia Subsystem (IMS) aussichtsreich.
Kunde «Anspruchsvoll» hat wieder ein diffiziles Problem mit seiner CNC-gesteuerten Fräsmaschine, das der Hersteller doch am besten bereits vorgestern hätte lösen sollen. Kein Wunder, dass die Anfrage den Supportmitarbeiter «Bleibruhig» gehörig ins Schwitzen bringt, zumal Anspruchsvoll als Premium-Kunde eine Reaktionszeit von einer Stunde zugesichert wurde. Und Techniker «Nieerreichbar», der den Kunden betreut, ist mal wieder offline, wie der Helpdesk-Mann auf seinem Bildschirm am rot blinkenden Telefonsymbol erkennt. Doch Rettung verspricht Aussendienstmitarbeiter «Ichkannalles», der sich, wie das Location-Based-Service-System mitteilt, nur zwei Querstrassen vom Kunden entfernt befindet und auch erreichbar ist. Kurz entschlossen verbindet Bleibruhig den Kunden mit dem Aussendienstler per Videocall, damit man ihm das Problem direkt demonstrieren kann. Zwar hat der Techniker keine Schulung für die Maschine, doch vor dem Kundenbesuch schaut er sich im Auto auf seinem UMTS-Handy kurz das entsprechende Wartungsvideo an. Auch das fehlende Diagnosegerät stellt Ichkannalles vor kein unüberwindbares Problem: Als seine Firma im Jahr 2009 ihr Netz zur Multimedia-fähigen IP-Infrastruktur ausbaute, wurden die teuren dedizierten Spezialgeräte abgeschafft. Stattdessen haben die Aussendienstmitarbeiter nun universell einsetzbare Tablet-PC, die per UMTS, WLAN oder Wimax auf die Diagnoseprogramme der Firma zugreifen, die zentral auf einem Server hinterlegt sind. Was sich auf den ersten Blick wie Science Fiction liest, soll spätestens in drei bis fünf Jahren zum Arbeitsalltag gehören, wenn sich das derzeit von der IT-Industrie propagierte Buzzword IMS auch in Form von anwendbarer Technik durchsetzt. Mit dem «IP Multimedia Subsystem» - kurz IMS - soll die Idee der konvergenten IT- und TK-Welten endlich konkrete Formen annehmen. Egal ob über UMTS, WLAN, Wimax oder Festnetz hat der Anwender dann in einer IMS-Umgebung überall und geräteunabhängig Zugriff auf seine Applikationen. Oder wie es Mechthild Behrens, Leiterin Product Management für IMS bei Siemens Communications, formuliert: «IMS ist eine Andockstation für verschiedenste Zugangstechnologien.» Die Anwendung selbst, so die IMS-Marketiers, sitzt dann nicht mehr auf dem Endgerät, sondern läuft auf einem zentralen Server.
Thin Client kommt zurück
Branchenkenner wird gerade der letzte Punkt an eine vor drei bis vier Jahren propagierte Idee erinnern: Das Application-Hosting. Damals sollten Application-Service-Provider Anwendungen als Dienstleistung bereitstellen, die dann der Benutzer mit Thin Clients nutzt. Eine Analogie, die nicht von der Hand zu weisen ist, wie Thomas Leutschacher, IMS-Test-Engineer in Lucents europäischem Forschungscenter, zugibt: «Das Ganze funktionierte aber nicht wirklich, da unter anderem schnelle Netze wie UMTS noch fehlten. Zudem gibt es in der IMS-Welt künftig nur noch ein Protokoll, das den Applikationszugriff steuert. Das ist ein Riesenvorteil.» Dominic McKaye von Cisco sieht noch eine weitere, parallele Entwicklung, die IMS zum Durchbruch verhelfen könnte: «Der Trend der Anwendungsentwickler hin zu Service-orientierten Architekturen (SOA) kommt IMS sehr entgegen.»
Transparentes Zusammenspiel
Gerade dieses transparente Zusammenspiel der unterschiedlichsten Komponenten aus Netzwelt und Anwendungsentwicklung ist einer der Vorzüge, die IMS nun für die gesamte IT-Welt interessant macht. Ursprünglich basierte IMS nämlich lediglich auf einer 1999 von dem Third Generation Partnership Project (3GPP) entwickelten Idee, die für Mobilfunkanbieter die Bereitstellung verschiedenster Handy-Dienste wie Download-Services für Klingeltöne, Multimedia Messaging Service (MMS) oder Onlinedienste vereinfachen sollte. Erst im Lauf der Entwicklung erkannte die Industrie dann das wahre Potenzial von IMS. Da es für die Core-Netze in der IMS-Welt nicht mehr verschiedene Protokolle für Voice- und Datenapplikationen gibt, sondern nur noch das Session Initiation Protocol (SIP), über das die Anwendungen gesteuert und gestartet werden, ist die Einführung neuer Anwendungen oder gar die Verschmelzung verschiedener Dienste deutlich einfacher. In der Praxis könnte das dann so aussehen, dass über SIP die entsprechende Anwendung gestartet wird und in einem zweiten Schritt der entsprechende Daten-Stream der Applikation über das Real Time Streaming Protocol (RTSP) oder Real-time Transport Protocol (RTP) läuft, um nur zwei Beispiele zu nennen. Interessant dabei ist, dass über SIP mit der Signalisierung des Anwendungsstarts gleichzeitig die Benutzerauthentifizierung zentral über einen Home Subscriber Server (HSS) erfolgt und nicht mehr wie bisher einzeln für jede Anwendung getrennt. Gerade diese Zusammenführung in ein Netzelement vereinfacht die Integration verschiedener Dienste wie etwa Location based Services mit Videotelefonie.
Serviceintegration
Welche Möglichkeiten die Integration verschiedenster Services eröffnet, zeigt das Beispiel der Universität Harvard: Dort stellt das IT-System anhand eines Location based Service fest, an welchem Access Point eine Person per WLAN angemeldet ist. Befindet sich ein Student in einem Hörsaal und das System ermittelt beim Gegencheck mit der HR-Plattform, dass er gerade eine Vorlesung hat, so wird ihm der allgemeine Internet-Zugang gesperrt, um sicherzustellen, dass seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem vortragenden Dozenten gilt. Übertragen auf die Business-Welt könnte dies heissen, dass ein Manager etwa im öffentlichen, unsicheren WLAN-Hotspot keinen Zugriff auf sensible Finanzdaten seiner Firma erhält, sondern höchstens den Speiseplan der Kantine im Intranet einsehen darf. An die Finanzdaten kommt er dagegen nur heran, wenn das IMS-Netz feststellt, dass der Zugriff über eine gesicherte VPN-Verbindung erfolgt.
Offene Schnittstellen
Noch sind für Szenarien wie das Harvard-Beispiel eigene proprietäre Lösungen erforderlich. Die Universität entwickelte ihr System beispielsweise mit XML. Mit IMS könnte sich dies ändern, denn «die Schnittstellen zwischen den Endgeräten und Netzen sowie den Applikationen sind offen und standardisiert», erklärt Siemens-Managerin Behrens. Auf diese Weise kann der Programmierer, so IMS-Spezialist Leutschacher, «seine Anwendungen wie gewohnt mit Java oder C++ schreiben und muss lediglich die Adresse eines SIP-Servers angeben». So weit die Theorie - die Praxis sieht heute nicht ganz so einfach aus, wie Leutschacher einräumt: «Da die Standards sehr offen definiert sind, gibt es leider auch viele Möglichkeiten, die Spezifikationen zu interpretieren.» Für die Hersteller hat dies zur Konsequenz, dass sie umfangreiche Interoperability Tests (IOTs) betreiben müssen.
Interoperabilitätsfragen
Enterprise-Kunden kann angesichts dieser Situation nur geraten werden, sich von ihren verschiedenen IT-Lieferanten die IMS-Interoperabilität schriftlich garantieren zu lassen. Kleinere und mittlere Unternehmen dürften dagegen mit dieser Frage kaum konfrontiert sein, da sich für sie die Investition in eine eigene IMS-Infrastruktur mit SIP- und HSS-Servern in der Regel nicht lohnt und sie den Dienst wohl über einen Provider beziehen werden. «Lediglich für Unternehmen mit 100 bis 200 Mitarbeitern, die bereits eine vollständige IP-Infrastruktur betreiben und eine entsprechende IT-Organisation besitzen, rechnet sich eventuell eine eigene IMS-Implementierung», zieht Leutschacher die Grenze. Denn neben den bereits angesprochenen Servern sind heute in der Regel noch Session Border Controller erforderlich, um nicht SIP-fähige Endgeräte auf SIP zu mappen. Bei Cisco positioniert man IMS als ein Subset des Service Exchange Framework, das wiederum Bestandteil des Service-orientierten Intelligent Information Network ist. In letzter Konsequenz, so ist Cisco-Manager McKaye überzeugt, «führt IMS bis zum Desktop zu einer Virtualisierung der Netze, bei der die Grenzen zwischen Public und Private Network verschwinden». Spinnt man den Gedanken weiter, könnte IMS dazu führen, dass wir in zehn Jahren Netzservices und intelligente Anwendungen als Commodity wie Strom aus der Steckdose beziehen. «Auf alle Fälle», so McKaye, «wird IMS dem Thema Outsourcing zu einem neuen Aufschwung verhelfen.» Auch wenn vieles an IMS noch nach Zukunftsmusik klingt, so wird sich die Technik wahrscheinlich schneller durchsetzen, als manchem Anwender lieb sein dürfte: IMS eröffnet nämlich nicht nur neue Möglichkeiten in Sachen Security und Anwendungsintegration, sondern erlaubt auch den Einstieg in das IP-Billing und die Definition von IMS-Serviceklassen mit Priorisierung. Damit könnten die Tage der kostenlosen Voip-Telefonie gezählt sein.
Jürgen Hill