23.04.2008, 08:42 Uhr

Die Kunst herauszufinden, was die Fachabteilung wirklich braucht

2006 erfüllten laut Chaos Report der Standish Group 46 Prozent der IT-Vorhaben zumindest teilweise nicht die Wünsche und Anforderungen der Auftraggeber.
Peter Jaeschke ist Leiter des Kompetenzbereichs Business Process and Requirements Engineering an der FHS St. Gallen. Rainer Endl ist Leiter des Instituts für Informations- und Prozessmanagement an der FHS St. Gallen.
Das Erheben, Dokumentieren, Prüfen und Verwalten der Anforderungen hat sich inzwischen als eigenständige Disziplin etabliert: Requirements Engineering. Die FHS St.Gallen führt aktuell eine Bestandsaufnahme durch, wie Requirements Engineering in den Unternehmen gelebt wird. Auszüge der Ergebnisse werden im Anschluss in der Computerworld veröffentlicht.
Neben Missverständnissen liegt eine der wesentlichen Ursachen darin, dass Anforderungen unausgesprochen bleiben. Dem kann nur durch den bewussten Umgang mit unterschiedlichen Anforderungskategorien und dem jeweils gezielten Einsatz verschiedener Erhebungstechniken entgegengewirkt werden.
Die Problemstellung lässt sich unabhängig von IT-Systemen am Beispiel eines Neuwagenkaufs verdeutlichen.

Unausgesprochen aber erwartet: Basisfaktoren

Manche Anforderungen werden auf dem Hof des Garagisten nicht explizit verlangt, sondern implizit als selbstverständlich vorausgesetzt
- Das Auto kann in der Schweiz problemlos zugelassen werden
- Für jeden Sitzplatz ist ein Sicherheitsgurt vorhanden
- Das Auto kann beschleunigen und bremsen
Bei diesen Anforderungen handelt es sich nach dem Modell von Noriaki Kano um Basisfaktoren. Sie werden als selbstverständlich vorausgesetzt, über sie wird nicht explizit gesprochen. Fehlen diese im Falle einer Software, sind die Anwender(innen) unzufrieden oder die Anwendungen schlicht unbrauchbar. Diese Anforderungen lassen sich in Gesprächen nur schwer vollständig erheben. Hier ist der explizite Einsatz von Beobachtungstechniken, der Analyse abzulösender oder vergleichbarer Systeme und derer Dokumentation sowie die systematische Analyse der zu unterstützenden Geschäftsprozesse inkl. verwendeter Formulare auf Ebene der einzelnen Tätigkeiten gefragt. Gleichzeitig müssen nicht benötigte und veraltete Anforderungen erkannt und gestrichen werden.

Die Kunst herauszufinden, was die Fachabteilung wirklich braucht

Ausgesprochen und gefordert: Leistungsfaktoren

In Abhängigkeit von den persönlichen Bedürfnissen werden die folgenden Anforderungen im Verkaufsgespräch mit dem Garagisten explizit formuliert
- Automatische Klimaanlage
- Navigationssystem
- Motorstärke, Verbrauch, Farbe
In diesem Fall handelt es sich nach dem Kano-Modell um Leistungsfaktoren. Sie werden explizit vom Auftraggeber gefordert und können in Software-Projekten vergleichsweise einfach mit klassischen Interviews oder auch Fragebögen teilweise kombiniert mit Schwachstellen-/Problemanalysen systematisch erhoben werden. Die Erfüllung führt zur erhöhten Zufriedenheit, die Nichterfüllung zu geringerer Zufriedenheit oder gar Unzufriedenheit.

Unausgesprochen und nicht erwartet: Begeisterungsfaktoren

Bei der letzen Kategorie handelt es sich um Begeisterungsfaktoren. Diese erhöhen die Zufriedenheit, werden jedoch nicht gefordert und im allgemeinen erst bei der Benutzung als enormer Vorteil wahrgenommen. Ursprünglich erfolgreiche Begeisterungsfaktoren der Vergangenheit (im Falle des Autos z.B. Navigationssystem, Airbag, funkgesteuertes Öffnen und Schliessen des Autos) sind heute Leistungsfaktoren oder gar selbstverständliche Basisfaktoren.
Zur Ermittlung von Begeisterungsfaktoren sind verschiedenen Kreativitätstechniken wie z.B. Brainstorming oder Perspektivenwechsel unterstützt mit Mindmaps und Kartentechniken hilfreich. Ausgangspunkt können hier Schwachstellen-/Problemanalysen, die Ergebnisse von Feldbeobachtungen sowie die sogenannten essentiellen, vollständig lösungsunabhängigen Anforderungen (im Beispiel: sicheres Fahren) sein.
Ein professionelles Requirements Engineering ermittelt die Anforderungen bewusst in allen drei Kategorien. Neben anderen Faktoren, wie den beteiligten Menschen oder den organisatorischen Rahmenbedingungen hat die Kategorie wesentlichen Einfluss auf die situativ richtigen Erhebungstechniken.
Peter Jaeschke, Rainer Endl



Das könnte Sie auch interessieren