27.01.2015, 11:40 Uhr

Burnout? Ich doch nicht!

Auf den CIOs und ihren Mitarbeitern lastet ein enormer Druck. Von ihnen wird verlangt, das Unternehmen ins digitale Zeitalter zu führen. Manchmal wird der Druck zu hoch – dann drohen Burnout und Depression. Computerworld hat mit einem Betroffenen gesprochen.
Eines Tages fing Holger (Name von der Redaktion geändert) an, den Sinn seines Seins zu hinterfragen. Dabei hätten andere für seine Karriere alles gegeben. Als hervorragender Schüler mit 25 Jahren in die Schweiz gekommen, um als Wirtschaftswissenschaftler an der Universität St. Gallen (HSG) zu promovieren, landete Holger nach erfolgreichem Abschluss im IT-Bereich einer namhaften Beratungsfirma. Es folgten Arbeitswochen, die manchmal sechzig, manchmal achtzig Stunden dauerten, die Grundlage für ein Leben auf der finanziellen und gesellschaftlichen Überholspur. Heute, einige Jahre später, sitzt ein anderer Holger im Bistro des Hotels St. Gotthard in der Zürcher Bahnhof­strasse. Er arbeitet inzwischen zwar wieder regulär, besucht aber statt Führungskräfteseminare regelmässig eine Selbsthilfegruppe für Burnout-Betroffene. Im St. Gotthard erzählt er seine Geschichte – und was andere daraus lernen können. «Früher kannte ich keine Probleme», sagt der Mittdreis­siger. «In der Schule und im Studium lief es wie von selbst.» Das war vorbei, als er aus diesem geschützten Umfeld heraus und in den Alltag eines Doktoranden hineingeworfen wurde. «Damit kam ich nicht klar», blickt Holger zurück. «Kollegen fingen an, sich gegenseitig fertigzumachen. Jeder wollte denjenigen beeindrucken, der darüber entschied, ob man am Ende der Ausbildung den Doktortitel erhielt.» Mehr als ein Lastesel seien er und andere Studenten für den Professor nicht gewesen, erzählt Holger. Doch er liess die Behandlung über sich ergehen, das Ziel war schon viel zu nah, um auszusteigen. «Ich habe das Gefühl bekommen, dass mein Leben von diesem Abschluss abhängt.» Je näher die Dissertation rückte, desto weniger war er im Stande, überhaupt eine Leistung abzurufen. Zuerst half dagegen Sport, danach Kaffee, am Ende nur noch Zynismus. Aber deshalb aufgeben? Dieser Begriff kam in Holgers Wortschatz nicht vor, so hatte er es von seiner Familie gelernt. «Psychische Überforderung? So etwas hatten nur die anderen, die Verrückten», war ihm beigebracht worden. Hätte er sich von diesem Vorurteil lösen können, es hätte ihn wohl vor einer langen Leidenszeit bewahrt. Denn Holger zeigte klare Anzeichen eines Burnouts.

Gefährliche Entwicklung

Wie viele Fälle von Burnout es in der Schweiz gibt, ist nicht dokumentiert, weil es von Schweizer Gesundheitsbehörden nicht als Krankheit eingestuft wird. Burnout kann darum auch nicht diagnostiziert werden und ist eigentlich auch kein Grund, krankgeschrieben zu werden. «Burnout ist zunächst einmal keine Krankheit an sich», sagt Wulff Rössler, emeritierter Professor für Psychatrie der Universität Zürich, «sondern ein Begriff der Arbeitspsychologie. Beim Burnout gehe es immer um Erschöpfung und Zynismus.» Daraus folge eine reduzierte Leistungsfähigkeit, erklärt Rössler. «Und auf das Burnout folgt oft die Depression, die dann das ganze Leben durchdringt.» Eine solche Entwicklung bei sich selbst zu vermuten, darauf kam Holger nicht. Zwar suchte er einen Arzt auf, nahm aber dessen Hilfe nicht an. Das wäre ja auch dem Eingeständnis einer Schwäche gleichgekommen. Statt­dessen kämpfte er sich zum Abschluss, um kurz darauf bei einer namhaften Beratungsfirma als IT-Consultant zu beginnen. Ohne darüber nachzudenken, warum. «Das war halt die HSG-Kultur. Mir wurde quasi indoktriniert, dass ich nach dem Abschluss einen solchen Job ergattern muss, um Karriere zu machen und Geld zu scheffeln. Alles andere wäre unlogisch gewesen.» Doch während er hoffte, mit dem Abstand zum Professor und dem Prestigejob die Freude am Leben zurückzugewinnen, verlor er in Wirklichkeit vieles: seine Freizeit, seinen Freundeskreis, beinahe sogar seine Beziehung. «Ich bin öfter bis um 2 Uhr im Büro geblieben und sass um 7 Uhr wieder am Frühstückstisch», sagt Holger. «Ausgleichsmöglichkeiten gab es nicht mehr, am Wochenende war ich zu kaputt, um runterzufahren.» Zu stressig war der Job. Wie schon während des Doktorats liess er alles über sich ergehen. Wollte ein Kollege Arbeit ab­geben, Holger machte sie. Musste am Freitag nach 22 Uhr noch ein Konferenzanruf mit New York getätigt werden, Holger war der Mann dafür. Bereits angeschlagen bei Stellenantritt, konnten seine Psyche und Physis die Dauerbelastung nicht lange ertragen. «Ich kam bald an den Punkt, an dem es nicht mehr weiterging», sagt Holger. Und kündigte. Doch während andere sich über die gewonnene Freiheit freuen würden, dominierte bei Holger ein völlig anderes Gefühl: Scham. Monate­lang getraute er sich nicht, aus dem Haus zu gehen, für seinen Bekanntenkreis lebte er noch immer das Leben des Auf- und nicht das des Aussteigers. «Obwohl es mir im Job derart schlecht gegangen war, trauerte ich nach wie vor dem nach, was ich verloren hatte.» Trotzdem hatte der Müssiggang etwas Positives: Endlich nahm er seinen Mut zusammen und telefonierte Ärzte ab. Einer diagnostizierte bei Holger eine leichte Depression. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Junge besonders gefährdet

Junge Menschen besonders gefährdet

Der Definition nach zeichnen sich Depressionen durch einen länger anhaltenden Zustand psychischer Nieder­geschlagenheit aus. Symptome können Ängste, Schlaf­störungen, Ermüdungserscheinungen, Appetitlosigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, reduziertes Selbstbewusstsein, eine Neigung zum Nachdenken, Schuldgefühle oder körperliche Beschwerden sein. Viele Betroffene verspüren ausserdem ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das sich bei starker Ausprägung auch in Selbstmordgedanken manifestieren kann.
So weit kam es bei Holger nicht, er begab sich rechtzeitig in Behandlung. Wie es auch rund 5 Prozent der Schweizer Bevölkerung im Jahr 2012 wegen psychischer Probleme tat. Davon ein Drittel wegen einer Depression. In der Schweiz wurden darüber hinaus alleine im Jahr 2012 16 959 Personen aufgrund einer schweren Depression hospitalisiert. Und in einer Umfrage des Bundesamts für Statistik im gleichen Jahr beschrieben 6 Prozent der Männer und 7 Prozent der Frauen ihre Situation derart, dass bei ihnen von einer schweren Depression aus­gegangen werden musste. Wer die Warnhinweise ignoriert und glaubt, keine Hilfe zu benötigen, dem sei folgende Statistik ans Herz gelegt: Bei 477 Personen, die sich zwischen 2010 und 2012 das Leben nahmen und bei denen eine Begleiterkrankung angegeben wurde (ins­gesamt begingen in dieser Zeit 1037 Menschen Suizid), war die Depression mit 59 Prozent deutlich die häufigste. Rückblickend scheint Holger für ein Burnout mit anschliessender Depression prädestiniert gewesen zu sein. «Gefährdet sind vor allem junge Menschen, die eine geringe Wertschätzung in ihrem Job geniessen», sagt Uni-Zürich-Professor Wulff Rössler. Wer älter werde, könne mit Belastungen besser umgehen. Und besonders gefährdet seien Männer, da Frauen mit emotionalen Anforderungen im Beruf besser zurechtkommen würden. Dass die Jungen besonders anfällig sind, zeigen auch die Statistiken des Bundesamts für Statistik. Bei den 15- bis 24-Jährigen litten 2012 bei den Frauen 13 Prozent, bzw. 8 Prozent der Männer an einer mittleren bis schweren Depression. Ab 55 Jahren sind es noch maximal 4 Prozent bei beiden Geschlechtern. Die Aussage «je wichtiger der Job, desto grösser das Risiko» ist übrigens falsch. «Das ist wie früher, als man dachte, Herzinfarkte würden vor allem Manager betreffen», sagt Rössler. «Dabei erleiden diese Krankheiten vor allem Leute, die wenig zu sagen haben. Je weniger man seine Arbeit selbst bestimmen kann, desto anfälliger wird man für psychische Erkrankungen.»

Wiederkehrende Verhaltensmuster

Holger war nach wie vor sehr anfällig. Denn kaum war er in Behandlung, wurde ihm ein neuer Job angeboten. Erneut in einer IT-Beratungsfirma. Da gab er die Therapie wieder auf. «In der IT muss man 100 Prozent arbeiten. Wenn man 80 Prozent arbeitet, fragen sie, ob man ein Kind hat, und bei 60 Prozent gibt es keine Karriere», erklärt Holger seinen damaligen Entscheid. So fiel er wieder ins alte Schema zurück, frass Probleme in sich herein und war der Handlanger für alle. Das eigentliche Problem aber war: «Ich war immer noch völlig orientierungslos und wusste nicht, was mir eigentlich Spass macht. Also habe ich versucht, mit viel Arbeit dagegen anzukämpfen.» Erst nach rund zwei Jahren merkte Holger, dass er nicht so weiter­machen konnte. Er liess sich versetzen und begann, regel­mässig einen Psychiater zu konsultieren. «Als der mir sagte, dass er nur drei Tage die Woche arbeitet, dämmerte mir das erste Mal: Das kann ja auch ein Lebensmodell sein.» Der Prozess der Aufarbeitung dauerte rund fünf Jahre, etwa gleich lang, wie es vom Doktorat bis zum regelmässigen Psychiaterbesuch gedauert hatte. In dieser Zeit machte sich Holger selbstständig, sprach mit Familie und Freunden über seine Probleme, kündigte die Selbstständigkeit und heuerte bei einem ETH-Spin-off an, wo er heute wieder etliche Stunden am Tag arbeitet. «Aber das macht mir nichts mehr aus», sagt Holger. «Heute weiss ich, dass ich zwar gerne arbeite, aber dass es andere Dinge gibt, die genauso wichtig sind.» Er gehe auch gerne mit den Kollegen abends eins trinken und die Anerkennung mache ihm schon Spass, gibt er zu. «Aber ich weiss, dass es ein befristeter Zustand mit unbekannter Länge ist.»

Die Ausnahme

Mit seiner neuen Lebenseinstellung sei er aber eher die Ausnahme, sagt Holger. «Einige Leute knechten sich derart, da braucht es nicht einmal einen Chef dazu. Für irgendeinen Leistungsgott, den es nicht gibt.» In der IT-Beratung sei dies besonders evident: «Ich habe viele Leute kennengelernt, die sich vor allem über den Job definieren. Die ansonsten nicht wissen, wer sie eigentlich sind.» Dabei sollten sich die IT-Experten ein Beispiel an anderen Berufsgruppen nehmen, rät Holger. Sie würden dem Job viel mehr Bedeutung zumessen als beispielsweise Taxifahrer oder Brötcheneinpacker. Diese Leute würden den Job als das begreifen, was er ist: Als Arbeit, die man verrichten muss, um Geld zu verdienen. Und nicht als Job, den man braucht, weil man ohne ihn kein erfülltes Leben haben kann. «Wenn jemand das Glück hat und eine Arbeit findet, die ihm Spass macht, umso besser», sagt Holger. Aber primär sei es nun einmal einfach Arbeit, nicht mehr und nicht weniger. Seit Kurzem trifft sich Holger alle zwei Wochen mit einer Gruppe im Selbsthilfecenter in Zürich, um nicht wieder in alte Verhaltensmuster zu fallen. «Ich will mit Leuten sprechen, die etwas Ähnliches durchgemacht haben. Die The­rapie ist ein Reminder dafür, dass ich stark Gegensteuer geben muss, um nicht wieder vom Weg abzukommen.»



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