eHealth 2.0
12.10.2011, 06:00 Uhr
Frischzellenkur mit Spareffekt
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens krankt an hohen Kosten und viel Regulierung. Wer die IT jedoch zielgerichtet einsetzt, profitiert von den Investitionen.
Bei rund fünf Prozent aller Spitalaufenthalte passieren Fehler, fast jeder zweite mit direkten Folgen für die Gesundheit des Patienten, erklärt die Zürcher Stiftung für Patientensicherheit. Das sei aber keine Frage fehlender Sorgfalt, sondern ein Systemproblem. Bart de Witte, eHealth-Experte bei IBM, weiss: «Die Ursachen vermeidbarer Fehler sind häufig mangelhafte und nicht aktuelle Information, Kommunikation, Qualitätskontrolle sowie fehlende Zeit.» Mithilfe von Informationstechnologie könnten einige Fehlerquellen ausgetrocknet werden, ist de Witte überzeugt.
Das iPhone als Vorbild
Apple hat mit dem iPhone eine Trendwende in der IT geschafft. Statt eine Lösung mit immer mehr Funktionen auszurüsten, legt Apple den Fokus auf die einfache Bedienung. Die grosse Popularität gibt dem US-Hersteller recht. Dieses Erfolgsrezept sollten sich eHealth-Anbieter zum Vorbild nehmen, meint Moshe Rappoport von IBM Research in Zürich. Der Trendforscher besitzt mittlerweile selbst ein iPhone. Vier Eigenschaften haben ihn als «Digital Immigrant» von dem Telefon überzeugt: Benutzerfreundlichkeit, Personalisierbarkeit, die Freiheit, Informationen jederzeit und überall abrufen zu können, und Vertrauen in die Sicherheit. Laut Rappoport müssen eHealth-Lösungen nach diesem Vorbild den Graben zwischen «Digital Immigrants» und «Digital Natives» überbrücken. Sowohl für die ältere Generation als auch für die jungen Erwachsenen, die mit Informationstechnologie aufgewachsen sind, sollten elektronische Patientendossiers, Webapplikationen für das Management von Gesundheitsdaten oder auch mobile Apps intuitiv benutzbar sein. «Das iPhone ist auch deshalb so erfolgreich, weil die Benutzer den Prüfmechanismen für Apps und dem Bezahlsystem ihr Vertrauen schenken», meint Rappoport. Der Apps-Check gewährleiste, dass der iPhone-Nutzer sich eine beliebige Anwendung auf sein Telefon laden kann, ohne Angst vor einem Defekt haben zu müssen. In Apples geschlossenem System legen selbst «Digital Immigrants» ihre Kreditkartendaten ab, weil sie dort noch keine schlechten Erfahrungen gemacht haben. Beat Perny, Cheftechniker der Swisscom-Tochter Evita, hört von seinen Kunden in letzter Zeit häufiger den Wunsch, über das iPhone auf die Gesundheitsdaten zugreifen zu können. Zurzeit stellt Evita ein Gesundheitsdossier im Web bereit. Die Evita-Kunden fordern ausserdem Einfachheit, Zusatznutzen, Personalisierbarkeit und niedrige Kosten. Nur 15 Prozent äusserten Bedenken wegen des Datenschutzes. Perny sieht Evita heute auf einem guten Weg: «Wenn von offizieller Seite Standards und Schnittstellen definiert sind, wird das Dossier auch als eHealth-Plattform genutzt werden können.»
Ärzte-Software auf DOS-Niveau
Während sich die eHealth-Anwendungen für den Endverbraucher offenbar in die richtige Richtung entwickeln, gibt es in der Spital-IT noch wenig Innovation. Professor Heinz Zimmermann, Chefarzt des Universitären Notfallzentrums Bern, beklagt, dass es für die Notfallmedizin zwar rund 100 Programme am Markt gäbe. Aber nur 25 Lösungen würden die Arbeit der Ärzte wirklich beschleunigen oder erleichtern. «Diese wenigen Anwendungen wurden zusammen mit Praktikern entwickelt – die anderen stammen aus den Entwicklungslabors der Software-Konzerne.» Eine harsche Kritik an die Adresse der Industrie. Professor Christian Lovis vom Universitätsspital Genf hat ähnliche Erfahrungen gemacht: «Die meisten elektronischen Dossiers und Klinikinformationssysteme sehen nicht aus wie ein iPhone, sondern wie DOS.»
Unter dem Eindruck des Erfolgs von benutzerfreundlichen Produkten suchen Lieferanten von Spitallösungen nach Wegen, ihre Anwendungen leichter zugänglich zu machen. Ein Beispiel ist der eHealth-Spezialist Hint. Das Lenzburger Unternehmen lanciert Ende September die «iApp», die Befunde und Medikationen auf dem iPad darstellt. «Seit der Einführung von Klinikinformationssystemen sind Patientendaten nicht mehr mobil», weiss Pascal Fraenkler von Hint. Die Informationen liessen sich höchstens mit einem Laptop auf dem Stationswagen zum Krankenbett transportieren. «Das ist allerdings eine sehr sperrige Angelegenheit», findet Fraenkler. Mit der iApp sollen Ärzte und Pflegende in Zukunft alle notwendigen Daten auf dem Apple-Tablet abrufen können. Die Integration der App in die vielen unterschiedlichen installierten Klinikinformationssysteme will Hint leisten können, verspricht der Bereichsleiter Customer- und Servicemanagement. Mit dem Implementieren von Apps und modernen IT-Lösungen bleiben jedoch Spitäler und Praxen noch Inseln. Das Potenzial der Informationstechnologie schöpfen die Leistungserbringer nur aus, wenn sie sich vernetzen – wie in der eHealth-Strategie vorgesehen.
Spitäler-Preisvergleich
Dass Veränderungen im Gesundheitswesen notwendig sind, steht ausser Diskussion. Allein die Einführung der Swiss DRG (Swiss Diagnosis Related Groups, Fallkostenpauschale) wird gemäss Experten zu mehr Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern führen, hofft man. Allerdings: Deren Nutzen ist nicht unbestritten. IBM-Spezialist de Witte sieht hier die IT als Helfer des mündigen Patienten: Ab 2012 erlaube eine landesweit obligatorische Spitalliste den Vergleich zwischen den Leistungserbringern. «In den USA ermöglicht das Gesundheitsministerium bereits heute Gegenüberstellungen von medizinischen Dienstleistungen (www.hospitalcompare.hhs.gov)», führt de Witte an. In Deutschland sind Rückwärtsauktionen für medizinische Behandlungen – wie sie MediKompass (www.medikompass.com) anbietet – mittlerweile erlaubt. Die Spitäler reagieren auf den neuen Wettbewerb nur langsam, beobachtet der Experte. Er sieht die Häuser heute noch als «Mainframes» – sie böten die ganze Palette medizinischer Dienstleistungen. Auch finden Diagnostik und Therapie meist nur im Spital selbst statt. Eine Zukunft liege aber in der Dezentralisierung durch Telemedizin und der Spezialisierung. «Auf einzelne Krankheitsbilder beschränkte Spitäler können durch Standardisierung und grössere Fallzahl pro Eingriff die Qualität steigern und so Kosten senken», sagt der eHealth-Experte.
Vorteile für Patienten
Eine andere Sparschraube, an der die Gesundheitsdienstleister künftig verstärkt drehen werden, sind die Hospitalisierungszeiten bei akuten Krankheitsfällen. Denn die Swiss DRG sieht pro Erkrankung nur Vergütungen für eine bestimmte Anzahl Tage vor. Per Telemedizin lässt sich der Heilungsprozess aber auch via Internet kontrollieren. Von vernetzten Systemen verspricht sich Mikael Hagstrom, Executive Vice President des Software-Herstellers SAS, noch mehr Vorteile: «Indem Gesundheitsdaten permanent und in Echtzeit in Computer eingespeist, dort ausgewertet sowie dem Patienten aufs Handy zurückgespielt werden, kann er unabhängiger leben.» Ein Beispiel ist der Diabetiker, der die Insulindosis an die körperlichen Belastungen anpassen kann, führt Hagstrom aus. Wenn dann nicht nur die PCs von Spitälern, Ärzten und die Diagnosegeräte der Patienten vernetzt werden, sondern zum Beispiel auch Informationen zur Pollenbelastung von MeteoSchweiz mit einfliessen, liesse sich auch ein Warnsystem gegen bevorstehende gesundheitliche Gefährdungen realisieren. Francois Enaud, Chef des Beratungsunternehmens Steria, sieht Lösungen, die Daten bei der gesamten Bevölkerung sammeln, in 10 bis 20 Jahren am Netz.
In noch kürzerer Zeit könnte eine spezialisierte Version von IBMs Superhirn «Watson» seine Arbeit aufnehmen. Laut Trendforscher Rappoport diskutiert der IT-Konzern aktuell mit Schweizer und europäischen Hochschulen, Spitälern und Ärzten, wie sich die Technologie des Grossrechners für das Gesundheitssystem nutzen lässt. Watsons Technologie wurde anhand der populären Spielshow «Jeopardy» demonstriert, bei der die Kandidaten anhand von Antworten die richtige Frage stellen müssen. «Bei komplexen Diagnosen ist der Arzt in einer ähnlichen Situation wie der Quizkandidat», meint Rappoport. Der Mediziner sieht Symptome und hört Klagen des Patienten. Indem er Fragen stellt und Untersuchungen vornimmt, kommt er zu einer Diagnose. Dabei könnte Watson assistieren. Der Rechner versteht die Sprache, kann die Informationen in Sekundenbruchteilen mit gespeicherten Daten abgleichen und macht dann Diagnosevorschläge: Mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit hat der Erkrankte eine Grippe, 40 Prozent sprechen für eine Lungenentzündung.
In noch kürzerer Zeit könnte eine spezialisierte Version von IBMs Superhirn «Watson» seine Arbeit aufnehmen. Laut Trendforscher Rappoport diskutiert der IT-Konzern aktuell mit Schweizer und europäischen Hochschulen, Spitälern und Ärzten, wie sich die Technologie des Grossrechners für das Gesundheitssystem nutzen lässt. Watsons Technologie wurde anhand der populären Spielshow «Jeopardy» demonstriert, bei der die Kandidaten anhand von Antworten die richtige Frage stellen müssen. «Bei komplexen Diagnosen ist der Arzt in einer ähnlichen Situation wie der Quizkandidat», meint Rappoport. Der Mediziner sieht Symptome und hört Klagen des Patienten. Indem er Fragen stellt und Untersuchungen vornimmt, kommt er zu einer Diagnose. Dabei könnte Watson assistieren. Der Rechner versteht die Sprache, kann die Informationen in Sekundenbruchteilen mit gespeicherten Daten abgleichen und macht dann Diagnosevorschläge: Mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit hat der Erkrankte eine Grippe, 40 Prozent sprechen für eine Lungenentzündung.
Watson als rechte Hand des Arztes
Die Forscher und Praktiker sehen laut Rappoport zwei Vorteile von Watson. Erstens könne ein Arzt angesichts der Fülle des heute verfügbaren Wissens gar nicht alle neuen Erkenntnisse auf seinem Spezialgebiet kennen – Watson schon. Der Rechner ermüdet nicht, wenn er permanent mit Daten gefüttert wird. Zweitens gibt es eine Vielzahl extrem seltener Krankheiten, deren Symptome oft auch Spezialisten noch nie gesehen haben. Watson kann diese aus dem Speicher abrufen und dem Arzt Fragen stellen, damit dieser auch ungewöhnliche Krankheitsanzeichen richtig beurteilt. Trotz der Vorzüge und der Interessensbekundungen von Praktikern auch hierzulande bleibe der Computer-Assistent zunächst eine Zukunftsvision, sagt Rappoport. Die Technologie, um Heilungschancen womöglich drastisch zu erhöhen, ist jedoch schon vorhanden.