23.06.2009, 14:52 Uhr

Neuer Schwung für alte Software

Enterprise-Applikationen sind zwar die Basis der Unternehmens-IT, oft können die alten Systeme aber viele neue Anforderungen nicht mehr erfüllen. Die Frage ist, modernisieren oder portieren?
Rolf Becking ist Senior Consultant bei Micro Focus in Dortmund
Nicht nur die Gesellschaft wird älter, auch die Software. Die grossen Enterprise-Applikationen wurden meist in den 1980er-Jahren konzipiert und aufgebaut. Zwar sind diese Systeme seither vielfach weiter entwickelt und unzählige Male so überarbeitet worden, dass kaum eine Codezeile aus der Anfangszeit überlebte. Der strukturelle Kern dieser Anwendungen blieb jedoch erhalten: in Cobol oder PL1 erstellte Host-Systeme. Auch wenn die Benutzer heute nicht mehr den berüchtigten «IBM3270-Green-Screen» sehen, sondern mit modernen grafischen Front Ends arbeiten, sind doch viele technologische Entwicklungen der letzten Jahre an den Enterprise-Applikationen vorbeigezogen, ohne tiefere Spuren zu hinterlassen.

Stabil, aber unflexibel

Dennoch - ihre Fans würden sagen: deshalb - sind diese Systeme in den Unternehmen heute wie ehedem für die wirklich wichtigen Dinge zuständig. Sie werden zum Beispiel für Warenwirtschaftslösungen grösserer Unternehmen eingesetzt, für Buchungssysteme, für die Kontoführung in Banken, die Vertragsverwaltung in Versicherungen usw., also überall da, wo ein hohes Transaktionsaufkommen und grosse Benutzerzahlen zuverlässig bewältigt werden müssen. Ihre Performance und Stabilität lässt sich nicht so leicht übertreffen, und das ist auch der Grund, weshalb die IT-Abteilungen der Unternehmen bis heute so zäh daran festhalten.
Dennoch sind die Alterungserscheinungen dieser Systeme mittlerweile unübersehbar. Neue und rasch wechselnde Anforderungen sowie die sich verändernden Geschäftsmodelle und -prozesse lassen sich in den Enterprise-Applikationen oft nicht mehr adäquat abbilden, zumindest nicht mehr zeitnah.
Die Analysten der Gartner Group sprechen in diesem Zusammenhang von einem «inherent lack of agility in established IT systems». Längst ist deswegen neben der klassischen Unternehmens-IT eine neue IT-Landschaft entstanden, die mit ihren eigenen Technologien diese Anforderungen abdeckt. Für Kommunikation, Vertriebssteuerung, Webshops oder Customer Relationship, aber auch für die zahlreichen neuen Endgeräte, bieten Unix-, Linux- und Windows-Server mit ihren flexibleren Möglichkeiten eindeutig die bessere Plattform.

Drei Wege zur Problemlösung

Auf Dauer kann das Nebeneinander dieser IT-Parallelwelten freilich keine Lösung sein. Umso weniger, als sich weder Geschäftsprozesse noch Kunden an die damit verbundenen Systemgrenzen halten. Die Daten aus den Transaktionssystemen werden heute auch für Webapplikationen benötigt, und als Endgeräte kommen PDA, BlackBerry oder iPhone zum Einsatz. Da derartige Anforderungen zunehmen werden, müssen sich die Unternehmen ernsthaft mit der Zukunft ihrer Enterprise-Applikationen befassen. Im Grunde haben sie drei Möglichkeiten, dieses Dilemma zu lösen:

1. Neuentwicklung

Der komplett neue Ansatz macht zwar den Umstieg auf offene Technologien, etwa Java oder .NET möglich, birgt aber ein grosses Risiko: Ausgereifte Applikationen und Prozesse werden durch Software ersetzt, deren Bewährungsprobe erst noch aussteht. Auf diesem Weg haben Unternehmen in den letzten Jahren viel Lehrgeld zahlen müssen, zahlreiche Projekte dieser Art sind gescheitert, andere konnten nur mit hohem Zusatzaufwand gerettet werden oder blieben in den kritischen Punkten Performance und Stabilität hinter ihrem Vorgänger zurück. Davon abgesehen blockiert eine Neuentwicklung die Entwicklungsabteilungen oft über Jahre, während aktuelle Weiterentwicklungen zurückgestellt werden müssen. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftslage wollen viele Unternehmen diese Risiken nicht mehr eingehen. Sie benötigen für die aktuellen Anforderungen Lösungen mit überschaubarem Zeit- und Kostenrahmen.

2. StandardLösung

Der Verzicht auf eigene Lösungen und die Implementierung einer Standard-Software ist ebenfalls alles andere als risikolos. Von den horrenden Kosten für Implementierung und Anpassung abgesehen, lassen sich viele Geschäftsprozesse in der Praxis doch nicht so glatt in einer fertigen Software abbilden wie gedacht. Von Implementierungs- und Konfigurationsproblemen abgesehen, kann man sich dann auch nicht mehr in der IT vom Mitbewerb unterscheiden.

3. Modernisierung

Bleibt der pragmatische dritte Weg: Bei der Modernisierung wird grundsätzlich der Kern der Enterprise-Applikationen erhalten, also die Geschäftslogik, etwa in Cobol- oder PL1-Code. Auf dieser Basis gibt es zwei Ansätze: Die Portierung auf andere Plattformen und die Integration in Software, die auf anderen Technologien beruht.
Alle Funktionen portieren
Die ursprünglich für Mainframes konzipierten Anwendungen lassen sich mit entsprechenden Werkzeugen, zum Beispiel von Micro Focus, ohne Einschränkung ihrer Funktionalität und nahezu ohne Code-Änderungen, auf Windows, Linux oder Unix übertragen. Diese Plattformen repräsentieren nicht nur aktuelle Technologien, sondern lassen sich vor allem deutlich kostengünstiger betreiben. 80 Prozent Einsparung bei Hardware- und Software-Kosten sind hier realistisch. Die Umstellungskosten sind demgegenüber gering. Die wenigen Anpassungen beschränken sich meist auf die Infrastruktur der Applikationen, also auf Batch-Systeme, Scheduler, Druckspooler usw., weil diese Systeme meist auf den Mainframe ausgerichtet sind.
Die Risiken eines derartigen Modernisierungsprojekts sind gering, weil der Kern der Anwendung, die bewährte Business-Logik, weiter zur Verfügung steht. Nach der Portierung läuft die Enterprise-Applikation wie zuvor; oft sogar schneller, weil die Applikation nun die CPU für sich alleine nutzen kann.
Selbst komplexe Mainframe-Applikationen können auf diese Weise ihre technische Basis wechseln, ohne dass sich an ihrer Leistungsfähigkeit etwas ändert. Da die Business-Logik nicht verändert wird, bleibt auch der Business Value der portierten Applikation, also ihr Beitrag zur Wertschöpfung eines Unternehmens, unverändert.
Derart portierte Applikationen lassen sich zwar kostengünstiger und flexibler als vorher betreiben, sie bringen aber keinen Zuwachs an Funktionalität. Sogar ihr Look-and-Feel entspricht dem des vorherigen Host-Systems, sodass in der Regel weitere Anpassungs- und Modernisierungsarbeiten vorgenommen werden müssen.
Modernisieren und erweitern
Auch weitere Anforderungen wie Webanbindung, XML-Output, BlackBerry-Anschluss usw. bedingen keine Änderungen der Business-Logik. Sie lassen sich zwar mit neuen Technologien besser abbilden, setzen aber gut eingespielte, zuverlässige Transaktionsprozesse im Backend voraus - also genau das, was vorhandene Enterprise-Applikationen bieten. Unternehmen können die Vorteile beider IT-Welten nutzen, wenn es ihnen gelingt, beide zu integrieren. Dies ist etwa für Java oder Webservices heute problemlos möglich.
Um aufwendige Entwicklungsarbeiten, die solche Projekte wieder verteuern würden, zu vermeiden, stellen die einschlägigen Anbieter leistungsfähige Werkzeuge zur Verfügung. So bietet Micro Focus Werkzeuge die vorhandene Legacy-Module automatisch kapseln und in eine Komponenten-Architektur, zum Beispiel Java Enterprise Edition (J2EE), überführen. Der Entwicklungsaufwand ist dabei erheblich geringer als bei Neuentwicklungen, zumal man auf diese Weise auch Modernisierungsprojekte durchführen kann, die nur einzelne Bereiche der Applikationen ändern, während andere unverändert weiterlaufen.
Eine hohe Flexibilität lässt sich durch die Integration der bestehenden Enterprise-Applikationen in eine Service-orientierte Architektur (SOA) erreichen. Eine SOA verhält sich definitionsgemäss technologieneutral. Es ist unerheblich, ob die Services als J2EE- oder als Cobol-Komponenten realisiert wurden. Man kann also auf der Ebene der Geschäftsprozesse in Cobol geschriebene Prozessmodule kapseln und über standardisierte Schnittstellen lose verbinden. Sind bewährte Cobol-Komponenten vorhanden, können sie als Services allen Applikationen zur Verfügung gestellt werden - auch ausserhalb der Cobol-Welt, zum Beispiel für Webanwendungen. Die Wiederverwendung von Legacy-Services minimiert die Risiken der Software-Entwicklung und reduziert die Kosten. Zudem lassen sich auch vorhandene Qualifikationen weiter nutzen.
Die Unternehmen haben die Modernisierung ihrer Enterprise-Applikationen lang aufgeschoben. Die IT hatte genug mit anderen Themen zu tun - und die grossen Systeme liefen ja. Diese Politik werden sie nicht mehr allzu lange fortsetzen können, denn der Modernisierungsbedarf ist vorhanden. Angesichts knapper IT-Budgets müssen einerseits alle Gelegenheiten für Einsparungen wahrgenommen werden, andererseits muss mit knappen Mitteln ein möglichst grosser Effekt erzielt werden. Für beide Aufgaben bietet sich die Modernisierung als Strategie an.
Rolf Becking



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