Computerworld vor 30 Jahren
28.12.2022, 06:16 Uhr
28.12.2022, 06:16 Uhr
Hysterie um das Michelangelo-Virus
Im Frühjahr 1992 schaffte es das Michelangelo-Virus in die Massenmedien. Die Hysterie war übertrieben. Allerdings lief das Geschäft mit Antivirussoftware anschliessend prächtig, berichtete Computerworld Schweiz.
Der Michelangelo-Virus verbreitete vor 30 Jahren Angst und Schrecken
(Quelle: Jörg Bittner Unna/Wikimedia)
Michelangelo Buonarotti, hoch geachteter Baumeister und Maler der Renaissance, hätte sich wohl nie träumen lassen, dass sein 517. Geburtstag dereinst einen solchen Wirbel verursachen würde. Grund waren aber nicht die Jubiläumsfestivitäten zu Ehren des Künstlers, sondern ein Computervirus. Es modifiziert am 6. März 1992 den Bootsektor von Disketten und Festplatten bei IBM-kompatiblen PCs, sodass die auf den Medien gespeicherten Daten unlesbar wurden.
Das im Februar 1991 zuerst in Australien und anschliessend in den Niederlanden und Schweden gesichtete Michelangelo-Virus schaffte es im Frühjahr 1992, dass Massenmedien über es berichteten. Das Killerprogramm zierte nicht nur die Titelseiten nahezu aller Zeitungen und Zeitschriften (eine polnische Zeitung titelte: «Massenmörder Michelangelo greift am Freitag an»), sondern auch in die Nachrichtensendungen aller TV- und Radiostationen.
Hauptgrund waren Prognosen von Virenexperten wie John McAfee und anderen, nach denen von weltweit 60 Millionen PCs deren 5 Millionen von Michelangelo befallen seien. Tatsächlich lieferte der US-amerikanische Hersteller Leading Edge fast 6000 Computer mit dem Virus aus. Auf Updatedisketten für die Bildbearbeitung Paintbrush war der Schädling schon im Oktober 1991 entdeckt worden, auf den Installationsdisketten von Intels LANSpool Print Server im Januar 1992 ebenfalls. Diese und rund 20 weiteren «Verbreitungskanäle» reichten jedoch nicht aus, um die globale PC-Gemeinde ernsthaft zu gefährden.
Bundesbern zittert vor dem Virus
Zu den PC-Anwendern, die vor Michelangelo einen Heidenrespekt an den Tag legten, gehörte auch die Bundesverwaltung. Computerworld berichtete, dass das Bundesamt für Informatik an alle Amtsstellen appelliert hatte, ihre Rechner vor dem 6. März mit einem Antivirusprogramm zu durchkämmen. Dem Eidgenössischen Finanzdepartement sei die Bedrohung durch das Virus sogar ein eigenes Michelangelo-Communiqué wert gewesen. Es kam am 6. März aber zu keiner nennenswerten Virenlast.
Anderenorts war die Infektionsquote bei staatlichen Stellen auffällig hoch. So wurden in den USA unter anderen die CIA, das Landwirtschaftsministerium, das Repräsentantenhaus, mehrere Büros des Senats, die Verwaltung des Bundesstaates Nevada, das Sandia National Laboratory des Energiedepartements und das Miami-Büro des Justizdepartements von Michelangelo befallen. Ein zweites Virennest konnte in Forschungslabors und Universitäten ausgemacht werden. Am New Jersey Institute of Technology siedelte sich Michelangelo in 2400 von insgesamt 3000 PC an. Die technische Hochschule von Stockholm war gewarnt, hatte der Renaissancemeister doch bereits vor einem Jahr zugeschlagen, konnte aber damals noch nicht identifiziert werden. Dazu kamen zahllose Hochschulen von Amsterdam bis Australien. All diese und weitere Aktivitäten des Virus (siehe Kasten) waren allerdings den Medienrummel nicht wert, der im Vorfeld des Michelangelo-Geburtstages veranstaltet wurde. Weltweit erlitten lediglich einige tausend Rechner eine Infektion, konstatierte Computerworld im April.
Info
Die besten Michelangelo-Infektionen
Aus den weltweit erscheinenden Schwesterheften trug Computerworld die kuriosesten Meldungen über den Virenbefall zusammen:
- In der Zeitung Bariloche aus der Stadt gleichen Namens in den Anden Südargentiniens schlug die Virenpest bereits am 5. März zu, weil die Computeruhr einen Tag vorgestellt wurden, just um den Datenverlust zu vermeiden. Ebenfalls verfrüht trat das Virus in der Oakland Tribune in Aktion, allerdings aus einem anderen Grund: Bei der kalifornischen Zeitung hatte sich Michelangelo an das Virus Stoned, das nicht auf einen fixen Zeitpunkt programmiert ist, angedockt.
- Glück im Unglück hatte die Motorfahrzeugkontrolle des US-Bundesstaates Illinois: Zwar entdeckte sie Michelangelo auf einigen PCs, doch wären es weit mehr gewesen, wenn ihr nicht das EDV-Budget auf vier Prozent des Vorjahres gekürzt worden wäre. An der Tulane University in New Orleans entdeckte man neben diversen verseuchten Rechnern, dass Michelangelo alten PC nichts anhaben kann.
- Nur wenige Michelangelo-Fälle meldete Japan, weil PCs dort lediglich ein Fünftel aller Mikrocomputer ausmachen. Betroffen war unter anderem ein Bauunternehmen, das den Schaden auf 20 000 bis 30 000 US-Dollar bezifferte.In Südafrika hat es praktisch jeden Wirtschaftssektor erwischt, am schlimmsten allerdings die offenbar (Raub-)kopierfreudigen Apotheker, auf die 300 der rund 1000 gemeldeten Infektionen entfielen.
Verkaufsfördernde Virusinfektion
Böse Zungen behaupteten, dass die Hersteller von Antivirenprogrammen die Michelangelo-Hysterie selbst inszeniert hätten. Der Virenjäger John McAfee behauptete unter anderem, dass ein Scan aller gespeicherten Daten nach bestimmten (Viren-)Mustern die «einzige» Methode sei, um einen Computer wirklich zu schützen. Computerworld doppelte mit der Bemerkung nach, dass John McAfee «nicht ganz zufälligerweise» der Chef des Softwarehauses McAfee Associates sei, dessen Programm mit ebendieser Methode arbeite. Es sollte McAfees Schaden nicht sein: Die Verkäufe 1991 generierten 6,9 Millionen US-Dollar. Im ersten Halbjahr 1992 belief sich der Ertrag bereits auf 6,3 Millionen. An diesem Ergebnis war nicht zuletzt Michelangelo massgeblich beteiligt, was McAfee prompt den Vorwurf eintrug, die Panik, wenn nicht angezettelt, so doch wenigstens tatkräftig geschürt zu haben
Gemäss Computerworld war McAfee nicht allein der Profiteur: US-amerikanische Softwarehändler meldeten Umsatzsteigerungen für Antivirenprogramme von bis zu 3000 Prozent. In der Schweiz blieb die Lage jedoch traditionell gemütlich. Der Verlag Markt & Technik konnte laut Computerworld zwar «etwas mehr verkaufen», stellte jedoch vor allem eine Verunsicherung unter PC-Anwendern fest, die sich häufiger per Telefon Rat holten. Deutlicher schlug sich die Virenpanik auf das Geschäft von Computer 2000 nieder: Die Firma konnte «sechsmal mehr» Antivirenkiller verkaufen als sonst.
Der PC-Marktführer IBM fühlte sich angesichts der neuen Bedrohungslage genötigt, seinen neu lancierten Einsteigermodellen aus der PS/1-Serie ein ganzes Softwarebündel beizulegen. Neben DOS und Windows waren auch die Office-Software Works for Windows sowie ein Antivirenpaket auf den Rechnern zu finden. Für Computerworld war der Zweck der Ungezieferbekämpfungs-Software «nicht ganz klar». Möglich sei, so die Zeitung, dass Big Blue den Anwendern damit ein Gefühl von Sicherheit suggerieren wollte.