23.11.2017, 14:30 Uhr
Grösser, höher, weiter
Exklusiv: Amazons CTO Werner Vogels beleuchtet in seiner Kolumne die Facetten der digitalen Transformation. Heute erklärt er, wie die Digitalisierung Wertschöpfung neu definiert.
Die «Hidden Champions» in der Schweiz – Familienunternehmen, Maschinenbauer, Spezialisten – sind einzigartig. Sie stehen für Qualität, Verlässlichkeit, und ein grosses Mass an Know-how in der Produktion. Gleichzeitig sind sich viele Experten einig, dass das grundsätzliche Potenzial von Industrie 4.0 noch nicht voll genutzt wird. Die meisten der Hidden Champions haben sich ihren Ruf hart erarbeitet: Über Jahrzehnte haben sie ihre Abläufe immer wieder optimiert. Sie haben ihre Prozesse perfektioniert und hochwertige Produkte für ihre Kunden entwickelt. Das hat sich für sie ausgezahlt und zahlt sich immer noch aus.
Digitale Technologien läuten jetzt jedoch einen Paradigmenwechsel in der Wertschöpfung ein. Die Fertigung kann komplett digitalisiert und zu einem Internet der Dinge (IoT) vernetzt werden, welches über die Cloud gesteuert wird. Und das ist nicht die einzige Veränderung: Es entstehen neue Datenströme, mit denen Unternehmen über Cloud Analytics ganz neue Erkenntnisse über ihre Tätigkeit gewinnen und ebenso über die Art und Weise, wie Kunden ihr Angebot nutzen. Das zwingt Unternehmen, Silos zwischen den Abteilungen aufzubrechen, über die traditionellen Tätigkeitsbereiche hinaus zu denken, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Und tatsächlich haben viele Industrieunternehmen in der Schweiz bereits irgendein Digitalisierungsprojekt angestossen. Die meisten erzielten zusätzliche Effizienzgewinne bei der Fertigung, indem sie digitale Technologien einsetzen. Andere Unternehmen haben Start-ups für bestimmte Aktivitäten gegründet oder setzen Pilotprojekte auf, aus denen Showcases entstehen. Viele Initiativen kommen aber über genau diesen Status nicht hinaus. Das Kerngeschäft, das ja noch gut läuft, bleibt unangetastet. Ein wesentlicher Grund ist, dass IT-Verantwortliche, gerade in mittelständischen Unternehmen, manchmal zu wenig bei der Strategie mitreden dürfen. Reichen diese Initiativen aus, um die Pole Position des Mittelstandes zu sichern? Wahrscheinlich nicht. Die Anbieter in aufstrebenden Märkten werden immer besser: Die Industrie in China zum Beispiel durchläuft in Riesenschritten eine Entwicklung, die andernorts lange Jahre gedauert hat. Die Rolle von Fertigungsunternehmen im Reich der Mitte befindet sich im Wandel: Von einer globalen Werkbank mit Niedriglöhnen hin zu einem Anbieter von fortschrittlicher Technologie. Unter anderem deshalb sind sich auch Marktführer aus der Schweiz bewusst, dass sie es sich nicht leisten können, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Auch durch die Wettbewerber von der Softwareseite wird die industrielle Wertschöpfung neu aufgerollt. Die Angebote dieser Unternehmen schaffen neben dem traditionellen Geschäft der Maschinenbauer, Werkzeugspezialisten und Systemanbieter einen komplett neuen Markt. Wenn neue Analyse-Dienstleister, spezialisierte Softwareanbieter und Unternehmen, die diese komplementären Angebote bündeln, auf den Plan treten, könnte das Kerngeschäft der Mittelständler mit einem Mal zu einem Modul unter vielen werden: Manufacturing-as-a-Service. Nächste Seite: Leichter Einstieg in die smarte Fabrik
Leichter Einstieg in die smarte Fabrik
Mehrwert entsteht im Industrie-4.0-Umfeld häufig dann, wenn B2B-Unternehmen in ihrem Geschäft B2C-Ansätze integrieren und damit einen Wandel in der Industrie initiieren. Dazu gehört die stetige Verbesserung und Erweiterung von Lösungen durch agile Entwicklungsprozesse. Die Software, die in der «digitalen Fabrik» eine immer grösser werdende Rolle spielt, wird ständig um Funktionalitäten erweitert, beispielsweise indem der Shopfloor zunehmend mit Daten «von aussen», wie der Logistik oder Warenwirtschaft, vernetzt wird. Schon heute lassen sich klassische Komponenten aus der Industrieautomatisierung von Anbietern wie Beckhoff, Harting, WAGO oder anderen nahtlos an die Cloud anbinden. Hidden Champions aus der Automatisierungstechnik digitalisieren ihre Produkte und ermöglichen ihren Kunden auf diese Weise einen leichten Einstieg in die «smarte Fabrik», also einer Umgebung, in der sich Produktionsanlagen und Logistiksysteme weitgehend selbst organisieren, ohne dass es eines Menschen bedarf, der sie steuert. Ein grossartiges Beispiel für diese Art von digitaler Transformation ist General Electric. CEO Jeffrey Immelt umschrieb den Wandel folgendermassen: «Noch letzte Nacht seid ihr als Industrieunternehmen schlafen gegangen – und heute Morgen wacht ihr als Software- und Analytics-Unternehmen auf.»
Effiziente Individualisierung
Das Beispiel Stölzle Oberglas – ein führender österreichischer Glashersteller – zeigt, wie ein Industrieunternehmen Gesetzmässigkeiten der Konsumgüterindustrie mit seinem Geschäftsmodell verknüpft. Entscheidet sich ein Kunde des Glasherstellers kurzfristig – etwa anlässlich eines sportlichen Grossereignisses – eine Sonderedition zu verkaufen, auf welcher der Name des siegreichen Teams steht, muss Stölzle kurzfristig liefern. Dieses hoch individualisierte Produkt darf im Zeitalter der Digitalisierung jedoch nicht teurer sein als ein Produkt von der Stange. In der Vergangenheit wären die Kosten zu hoch gewesen, um einen derartigen Sonderwunsch zu erfüllen. Stölzle kann das heute leisten, weil es mit Hilfe des Softwareanbieters Actyx Daten im gesamten Produktionsprozess zusammengeführt hat, sie intelligent analysiert und darstellt. Damit können veränderte Spezifikationen praktisch in Echtzeit in den Produktionsprozess einfliessen. Die Umsetzung erfolgt mittels Cloud-Technologie. Kundengetriebenes Innovieren im Industrie 4.0-Umfeld macht hier aber noch nicht halt. Actyx nutzt die Erkenntnisse aus dieser spezifischen Anforderung, entwickelt die Lösung weiter und macht sie über sein Lösungsportfolio auch anderen Anwendern zugänglich – ähnlich wie wir auch bei Amazon Web Services vorgehen, wenn wir auf konkretes Kundenfeedback hin neue Features und Dienste entwickeln und diese dann für alle unsere Nutzer verfügbar machen. Nächste Seite: Ökosystem zusätzlicher Services
Ökosystem zusätzlicher Services
Für die Hidden Champions wird es künftig auch erfolgskritisch sein, das Wissen von «Digital Natives» sinnvoll mit ihrem Ingenieurs-Know-how zu verbinden. Fast täglich entstehen im Silicon Valley, in Tel Aviv, London und Berlin Startups. Das Geschäftsmodell vieler dieser neuen Firmen besteht darin, durch einen neuen digitalen Dienst einen noch grösseren Wert für den Anwender einer Maschine oder eines Geräts zu schaffen. Mit den Sensoren, die in einem ersten Schritt Maschinen und Produkte im Internet of Things verbinden, werden dann aber auch Dienstleistungen möglich, die nicht mehr auf die Fertigungsstrasse beschränkt sind. Gleichzeitig bergen derartige Experimente nur ein geringes Risiko, da sich in der Cloud exakt die Dienste und die Rechnerleistung buchen lassen, die für den jeweiligen Anwendungszweck auch tatsächlich gebraucht werden.
Den Wandel wagen
Solche Dienste entwickelt WATTx in Berlin. Als unabhängiges Spin-off des 100 Jahre alten Heizungsbauers Viessmann, wurde WATTx ursprünglich von den Firmeneigentümern ins Leben gerufen, um die Standardprodukte von Viessmann um digitale Mehrwerte zu ergänzen. Dazu gehören intelligente digitale Services, etwa eine IoT-Plattform für kommerziell genutzte Gebäude. Auf Basis von Informationen, die Sensoren innerhalb und ausserhalb des Gebäudes melden, lassen sich Heizungsanlagen, Beleuchtung und Verdunkelung der Fenster aus der Ferne regeln. Inzwischen macht WATTx aber viel mehr als das. Die Unternehmensphilosophie besteht darin, digitale Talente in Berlin zusammenzubringen und mit unbegrenztem Zugang zu neuen Technologien wie der Cloud auszustatten. Das ermöglicht einerseits, Ideen sehr schnell in die Realität zu übertragen, aber auch schnell zu verwerfen, wenn sie nicht realisierbar sind. Diese Ideen werden im Übrigen auch hier entwickelt und erprobt, bevor sie als neue Unternehmen an den Markt gehen. Viessmann entwickelt Mehrwertdienste rund um Ausgangsprodukte wie beispielsweise Heizung und Thermostate inzwischen in Eigenregie. Dadurch sichert sich das Traditionsunternehmen den Kontakt zum Endkunden, aber erforscht mit Hilfe von WATTx auch völlig neue Märkte.
Die grossen Veränderungen im Blick behalten
Software und Services sind Bereiche, in denen sich der Hersteller einer Maschine oder eines Gerätes, anfangs häufig nicht zuhause fühlt – schlicht, weil es bislang nicht zu seinem Kerngeschäft gehört hat. Kurzfristig scheint es ein hohes Risiko zu sein, grundsätzlich funktionierende Prozesse zu verändern. Fehlt jedoch die strategische Dimension bei Industrie-4.0-Projekten, kann dies dazu führen, dass viele eben keine bahnbrechenden Mehrwerte schaffen – weder auf mikro- noch auf makroökonomischer Ebene. Langfristig ist das Risiko dann gross, von agileren Wettbewerbern überholt zu werden, weil man keine neue Marschroute in einem globalen Ökosystem von Maschinen, Produkten und digitalen Services eingeschlagen hat. Wer hingegen den Wandel wagt und auf der Grundlage von Cloud-Technologien, neue Ansätze und Lösungen implementiert, leistet damit einen wesentlichen Beitrag dazu, dass der hart erarbeitete Stellenwert der Industrie erhalten bleibt und über die Zeit vielleicht sogar noch grösser wird.
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