Zurück zur Ingenieurskultur
Die falschen Mythen
Das Bild vom Jongleur und Zirkusdirektor wird leider in der Praxis oft missverstanden. Das eine Missverständnis meint, dass man ein sehr guter Ingenieur sein muss, um ein guter CTO zu sein. Das klingt vernünftig: Kann nicht jeder Jongleur auch Kunststücke mit einer Keule? Ja, aber man muss nicht Keulen herstellen können, um sie zu jonglieren. Es stimmt zwar: Wer selber professionell programmiert hat, tut sich leichter als Projektmanager. Und wer selber Projekte professionell gemanagt hat, tut sich leichter als CTO. Das eine ist aber weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für das andere. CTOs sind
Manager.
Manager.
Das andere Missverständnis meint umgekehrt, dass man als CTO eigentlich nur eine Managementausbildung braucht und auch ohne breite und tiefe IT-Kenntnisse ein guter CTO sein kann: Es komme nur auf die richtigen Prozesse und eine gelassene, in sich selbst ruhende Haltung an, so wird argumentiert. Ein guter Zirkusdirektor müsse die Arbeit der Artisten nicht verstehen, sondern sich um deren Gefühle kümmern. Das nennt sich auch postheroisches Management, garniert mit Achtsamkeit. Das Ergebnis ist aber fast immer eine Geringschätzung von Ingenieursqualität und in der Folge eine schlechte IT. Wer seinen Informatikern achtsam begegnen will, muss sie als das wertschätzen, was sie sind: Ingenieure!
Die offenen Fragen
Vieles hat sich in den letzten Jahren verändert. Es fällt schwer, sich vom Liebgewonnenen zu verabschieden und neue Paradigmen anzunehmen. Aber die Technik interessiert sich für solche Gefühle nicht. Ich persönlich habe Unternehmensarchitekturen immer als Boundary Object gesehen, als Objekt zur Vermittlung zwischen IT und Business. Heute muss ich akzeptieren, dass die grosse Kommunikation nie stattfand und stattdessen es nun die kleine Kommunikation zwischen Business-Abteilung und zugeordnetem Micro-Service-Team gibt. Aber welches Architekturmanagement kümmert sich heute um die Gesamtarchitektur? Oder ist Komplexitätsmanagement kein Thema mehr, wenn wir eine qualitativ hochwertige Arbeitsumgebung für Ingenieure haben, wie oben skizziert?
Eine andere Frage ist, ob denn eine sorgfältige Modellierung überhaupt noch relevant ist, wenn Anwendungen nach zwei, drei Jahren ohnehin entsorgt werden. Müssen wir bei Qualitätsfragen einen strategischen Tradeoff im Sinn von Michael Porter oder von Kim/Mauborgne anstreben? Das hiesse, jene Qualität anstreben, die den meisten Mehrwert bietet und die anderen Arten von Qualität dafür einsparen. Ein Lösungsansatz, der eine Antwort auf beide Fragen zu geben versucht, ist das Konzept der Fitness-Funktion für evolutionäre Architekturen von Neal Ford, Rebecca Parsons und Patrick Kua. Das Modell adressiert Micro-Service-Architekturen und geht davon aus, dass wir bewusst entscheiden, welche Qualitätsdimensionen relevant sind und welche nicht. Diese Dimensionen sollen anschliessend gemessen werden, grossteils über das Monitoring einer guten, modernen Arbeitsumgebung für Ingenieure.
Ob Fitness-Funktionen sich durchsetzen werden, who knows! Noch immer ist die Kenntnis sogenannter Patterns und die Vermeidung von Anti-Patterns in der Produktentwicklung auf allen Ebenen hoch relevant. Das grosse Thema Architektur wird aber vom ebenso grossen Thema gute Arbeitsumgebung für Ingenieure und Wiederbelebung der traditionellen Ingenieurskultur derzeit verdrängt. Dazu gibt es mehr denn je eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: Hier die «technisch reichen» Unternehmen, die auf Automatisieren, Messen und Lernen setzen – dort die «technisch armen» Unternehmen, die nicht einmal ein bewusstes Schuldenmanagement für ihre technischen Schulden betreiben, weil sie solches schlicht von der Geschäftsleitung nicht bezahlt bekommen. Langfristig werden die reichen Unternehmen die armen vom Markt verdrängen.
Zum Autor
Reinhard Riedl
ist wissenschaftlicher Leiter im Departement Wirtschaft der Berner Fachhochschule. Daneben ist er Präsident der Schweizer Informatik Gesellschaft.