Mit Narrativen die Digitalisierung meistern
Die richtigen Projekte auswählen
Um die Chancen nutzen zu können, ist es entscheidend, dass der digitale «Change» einer anderen Logik folgt als konventionelle Veränderungsprogramme. Und zwar in Bezug auf fast alles, insbesondere auf die Erfolgsmassstäbe und die Auswahl der Projekte sowie der Schlüsselpersonen. Der digitale Wandel wird dann und nur dann erfolgreich sein, wenn er aus einer Folge fokussierter, schnell durchgeführter Projekte besteht, von denen jedes einer Gruppe von Betroffenen einen klaren Nutzen bringt. Genügend viele dieser Projekte sollten einen massvoll experimentellen Charakter aufweisen. Und alle Projekte sollten vor Beginn sauber zu Ende gedacht und trotzdem agil durchgeführt werden. Denn es braucht beides: gutes traditionelles Engineering und einen offenen Projektablauf. Für echt experimentelle Projekte genügt sogar eine agile Projektstruktur nicht immer. Sie müssen zusätzlich mit spezifischen Instrumenten unterstützt werden, wie beispielsweise hypothesenbasiertem Projektdesign.
Manche werden hier einwenden, dass beispielsweise in Singapur mit grossem Erfolg ein anderes Vorgehen gewählt wird. Dort setzt man oft auf ein schwergewichtiges, ganzheitliches Top-down-Vorgehen, das alles und jeden mit einschliesst und insbesondere einen Einstellungswandel forciert, also das Denken des Einzelnen umgestaltet. Das funktioniert deshalb genügend schnell, weil Singapur eine völlig andere Gefolgschaftskultur besitzt als Mitteleuropa. Partizipation findet durch Mitmachen, nicht durch Mitreden statt. Einige werden auch einwenden, dass man im partizipativ aufgestellten Mitteleuropa – insbesondere in der Schweiz mit ihrer halbdirekten Demokratie und in Deutschland mit seiner Mitsprachekultur in Unternehmen – auf ein breites Stakeholder Management setzen müsse, das alle mitnimmt. So ein Vorgehen ist aber viel zu langsam und bläst die Komplexität auf – ganz abgesehen davon, dass es monolithische Lösungen nahelegt. Es kann auch nicht durch radikale anglikanische Führungskonzepte – wie beispielsweise Förderung eines permanenten unternehmensinternen Wettbewerbs – beschleunigt werden. Denn das Schaffen von Dauerstress reduziert die Vertrauens- basis und bremst den Wandel eher noch mehr.
Bei uns in Mitteleuropa funktioniert nur eines: Sorgfältiges und konsequentes Tun in Form gut vorgedachter, fokussierter, massvoll experimenteller Projekte, die für einen Teil der Kunden oder der Mitarbeitenden konkreten Nutzen bringen. Diese Projekte sollten agil und schnell durchgeführt werden. Ergänzt werden sollte das Handeln durch das Lernen aus den Ergebnissen solcher Projekte. Dieser Outcome zeigt sich selten sofort nach Ende eines Projekts, sondern typischerweise erst zwei bis drei Jahre später. Schnelles Handeln sollte also nicht heissen, überhastet Schlüsse zu ziehen. Die Erfahrung zeigt vielmehr, dass Durchhaltewille ein wichtiger unternehmerischer Erfolgsfaktor ist, insbesondere bei digitalen Innovationen.
Die richtigen Teams bilden
So gänzlich neu ist das alles nicht. Neu muss aber die Konsequenz im Handeln sein. Früher waren Projekte erfolgreich, die sich zu 60 bis 70 Prozent an Erfolgsfaktoren orientierten, heute muss jede grössere Abweichung durch extra hinzugegebene Exzellenz kompensiert werden. Vor allem gehört eines zwingend zu jedem erfolgsorientierten Projekt: die Antizipation der Auswirkungen auf die Betroffenen, ergänzt durch ein explizites Change Management. Die Umsetzung des digitalen «Change» ist zwar viel freier bei der Wahl der Inhalte als traditionelle «Change»-Praktiken, setzt aber gleichzeitig viel höhere Anforderungen an das Tun. Das Prinzip lautet «Langfristig und ganzheitlich denken – und temporär und lokal handeln!». Das ist anspruchsvoll.
Neu sind auch die Zusammensetzungen der Teams. Diversität ist in, Meinungsvielfalt im Projektteam ist out: Wo partizipative Einigungsprozesse notwendig sind, ist das Vorhaben gescheitert. Benötigt werden stattdessen Teams, deren Mitglieder die Ziele von vornherein vollumfänglich teilen und die Diversität in der Zusammensetzung dafür nutzen, um schneller vorwärtszukommen. Anders formuliert: Wir werden künftig bei den digitalen Vorreiterunternehmen immer mehr echte Hochleistungsteams erleben, wie es sie sonst nur im Sport und in der Kunst gibt. Diese Teams sind auf einer Linie in Bezug auf das Ziel und den Weg, aber heterogen in Bezug auf die Kompetenzen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen sehr viel mehr selbstverständlich ist und gleichzeitig sehr viel weniger formal geregelt wird als in konventionellen Teams in der Wirtschaft.
Die richtigen Abstriche wählen
Das Problem akademischer Ansätze zur digitalen Transformation ist häufig (wenn auch nicht immer), dass sie alles zu methodisch und zu perfekt machen wollen. Das vergeudet Ressourcen und führt sogar zu methodenbedingten Fehlentscheidungen. Das Problem mit allzu pragmatischen Ansätzen ist wiederum, dass sie meist konzeptionell zu unkritisch sind, was zu blauäugig entwickelten Plänen und zur Genauigkeit am falschen Ort führt. Wer erfolgreich sein will, sollte daher einen Weg zwischen beiden Arten der genannten Ansätze wählen. Alles von vornherein konsequent und ganzheitlich zu durchdenken, ist wichtig, daraus folgt aber nicht, alles vorneweg formal zu spezifizieren. Eigentlich bedeutet es nur, die Fortune zu besitzen, alles genügend gut vorher zu durchdenken, sodass eine agile Projektführung zum gewünschten Erfolg führen kann.
Solch eine Fortune ist weder Zufall noch mit Methoden sicherzustellen. Sie ist vielmehr Ausdruck von Erfahrung und strategischem Talent. Eine damit verwandte strategische Frage ist die Gestaltung des Qualitätsmanagementplans: In welchem Bereich im Projekt wollen wir welche Qualität anstreben? Am Beispiel eines Software-Projekts formuliert: Wollen wir guten Code? Wünschen wir eine hochwertige funktionale Maschinerie beziehungsweise eine umfassende Business-Logik? Wollen wir ordentliche technische Schnittstellen? Verlangen wir hohe Usability? Brauchen wir eine konfigurierbare Applikation? Erwarten wir ein professionelles Einführungsmanagement und eine breite adressatengerechte Stakeholder-Kommunikation? Oder wollen wir sogar eine Partizipation der Stakeholder in unserem Lösungsdesign? Und so weiter.
Nur in ganz speziellen Projekten ist maximale Qualität sinnvoll. Wer alles richtig machen will, liegt damit fast immer grundfalsch, weil er Projekte zu sehr bremst. Eine Möglichkeit, um die strategische Frage «Welche Qualität?» besser zu verstehen, ist das Modell der technischen Schulden: Fehlende Qualität stellt technische Schulden dar. So wie finanzielle Schulden sind technische Schulden eine grundsätzlich sinnvolle Option, solange diese beherrscht werden, und ruinös, wenn sie überborden. Nur dass es sehr unterschiedliche technische Schulden gibt ohne standardisiertes Reporting und dass sie sich auch sehr direkt auf den Nutzen von Projekten auswirken. Während aber das systemweite Schuldenmanagement ein praktisch ungelöstes Problem bleibt, ist das Eingehen technischer Schulden in fokussierten Projekten und einer Microservices-Applikationslandschaft sehr viel besser beherrschbar. Es ist eine strategische Entscheidung mit beschränkten Nebenwirkungen. Das ist einer der Gründe, auf fokussierte Projekte zu setzen.