Denker wird Lenker

Spagat zwischen den Welten 

Bleibt die Frage, wie ein Wechsel aus einer akademischen Laufbahn in die Wirtschaft aussieht. Einer, der sehr offen über seine eigenen Erfahrungen redet, ist Nikolaus Braun. Als der mit summa cum laude promovierte Historiker in den 1990er-Jahren ein Trainee-Programm der deutschen Commerzbank antrat, sprachen seine Professoren noch von «Talentverschwendung». Nach verschiedenen Praktika in den Bereichen Werbung und Marketing sei er da «so reingerutscht», sagt der heute 47-jährige Manager. Damals erwarteten seine Frau und er Nachwuchs, weshalb er eine Laufbahn suchte, die mit weniger Risiko verbunden war als die akademische. Eine, in der man nicht auf wenige Förderer angewiesen sei und besser planen könne. 
Also griff er zum Telefonbuch seines Wohnorts München und rief eine Reihe von Banken an. «Den persön­lichen Kontakt suchte ich, um zu verhindern, dass meine Bewerbung beim Personaler nicht gleich im Papierkorb landet», erklärt er rückblickend. «Dabei habe ich erst bei den Banken angerufen, bei denen ich mir die kleinsten Chancen ausgerechnet habe, und die Gelegenheit zum Üben genutzt.» Das war 1999, die Banken hätten unter einem gewissen Druck gestanden, weil sich die junge Elite lieber in die Internet-Blase einbrachte und die Banken nur noch die zweite Reihe hätten rekrutieren können, sagt Nikolaus Braun. Von der Commerzbank glaubte er zu wissen, dass sie gegenüber Quereinsteigern offener war als andere. Tatsächlich klappte es und nach eineinhalb Jahren als Trainee wurde aus dem Doktor der Filialleiter einer Bank. Auf einen Schlag war er für 4000 Kunden verantwortlich. «Not macht erfinderisch», witzelt er. Für seinen abrupten Wechsel habe es allerdings viel Neugierde, Offenheit für Neues und auch das nötige Glück gebraucht. Ein Fenster, das sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort auftat. «Ohne die nötige Offenheit tut man sich schwer», sagt Braun. Doch habe man diese Voraussetzungen, spiele der Hintergrund fast keine Rolle, konstatiert Braun. 
Leicht sei der Einstieg in die Finanzwelt dennoch nicht gewesen, die Kollegen fingen an zu tuscheln. «So weit ist es also schon gekommen», raunte eine Kollegin, als der studierte Historiker seine Stelle antrat. «An den Spagat zwischen akademischem Hintergrund und Finanzwelt habe ich mich nun 20 Jahre lang gewöhnt», sagt er. Hätten ihn seine akademischen Kollegen früher oft als Verräter ge­sehen, vertrage man sich heute wieder. Braun ist auch nicht mehr der Einzige, der umgesattelt hat. Ein ehemaliger Kommilitone leitet die Marketingagentur, mit der er heute zusammenarbeitet, und für ein Firmenjubiläum fand er einen Auftragshistoriker über eine Agentur, die ebenfalls ein ihm bekannter Akademiker aufgebaut hat. 

Wie ein Spitzensportler 

An seiner neuen Berufswelt schätzte Nikolaus Braun vor allem den Kontakt zu den Kunden und die Quantifizierbarkeit des Erfolgs: Dieser sei direkt in Euro messbar. «Das empfinde ich als Vorteil gegenüber der akademischen Welt, in der man Höchstleistungen erbringen kann und am Ende dennoch Beziehungen über den eigenen Erfolg entscheiden.» Dass ein Historiker plötzlich Chef war, hatte auch Auswirkungen auf die Unternehmenskultur in der Bankfiliale an der Münchner Hohenzollernstrasse. Nikolaus Braun setzte die Beratung der Kunden über die unmittelbaren Gewinnziele. «Wir gingen netter um mit Kunden und liessen uns nicht von Margen leiten. Ich messe lieber in Jahresergebnissen als in kurzfristigen Verkaufszahlen», resümiert Braun. Dass seine Filiale trotzdem erfolgreich war, führt er darauf zurück, dass die «relativ faire Beratung» zu vielen Neuabschlüssen geführt habe. 
Doch als die Industrie zunehmend überhitzte und auf die grosse Wirtschaftskrise zusteuerte, wurde der Druck immer grösser, die Abschlussziele seien immer wieder deutlich erhöht worden. Just als die Commerzbank Nikolaus Braun zum Leiter einer Vertriebsregion befördern wollte, Vorzimmer und Dienstwagen inklusive, entschied er sich nach nicht ganz zehn Jahren im Unternehmen, der Commerzbank den Rücken zu kehren. In der Branche als «Nestbeschmutzer» beschimpft, wechselte er zu einem Start-up, das Anlageberatung auf Honorarbasis und frei von Provi­sionen anbietet, und baute für das Jungunternehmen eine Filiale auf. «So kann ich in den Spiegel schauen», sagt Braun zu seinem weiteren Werdegang. Mittlerweile hat er sich zusammen mit einem Kollegen selbstständig gemacht, um nach einem ähnlichen Geschäftsmodell zu arbeiten. 
Seine Vergangenheit als Historiker prägt ihn und seine tägliche Arbeit bis heute. «Im Umgang mit den Kunden sehe ich mich als Geschichtenerzähler, als einer, der ak­tuelle Entwicklungen übersetzt und verständlich macht», erzählt er. Mit seinem Unternehmen Neunundvierzig An­lageberatung empfängt er seine Kundschaft heute in einem kleinen Büro statt in der grossen Filiale. Das gefalle ihm deutlich besser als die Welt der Konzernbanken. Dort erzählt er im Beratungsgespräch dann auch mal eine Anekdote aus dem irischen Bürgerkrieg oder erklärt die Beweggründe junger Männer, die einen Heldentod sterben wollen. Er sieht sich heute als «Ex-Historiker», als einer der mal sehr gut war, aber lange kein Training mehr hatte – «wie ein Spitzensportler». 
Die vorgestellten Persönlichkeiten zeigen deutlich: Geisteswissenschaften sind längst keine Exotenfächer mehr, die auf eine Karriere im «Elfenbeinturm» vorbereiten. Wer Geschichte, Philosophie oder Kunst studiert hat, hat gelernt zu reflektieren, kritisch zu hinterfragen und Erfahrungen vergangener Generationen bei der Planung betrieblicher Abläufe zu berücksichtigen. Eigenschaften, die Unternehmen für ihre digitale Transformation in Zukunft benötigen.

Bildergalerie
Einstmals als Exoten belächelt, sind Geisteswissenschaftler heute Leader in Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung. Computerworld stellt drei Persönlichkeiten im Kurzportrait vor.




Das könnte Sie auch interessieren