Fachkräftemangel 04.11.2019, 06:19 Uhr

So punkten Arbeitgeber bei Schweizer ICT-Talenten

Fachkräfte sind schwer zu finden. Computerworld hat beliebte Arbeitgeber gefragt, wie man bei ICT-Talenten punktet.
Lionel Richie veröffentlichte den Song «Hello» 1984. An einem Klemmbrett im Impact-Hub-Zürich-Viadukt hängt ein Foto des Musikers mit abreissbaren Fetzen des Songtextes
(Quelle: KEYSTONE
)
Fachkräfte sind in der Informatik nach wie vor sehr gesucht. Mit der zunehmenden Digitalisierung von Schweizer Unternehmen fällt es auch der hiesigen ICT-Wirtschaft schwer, an die begehrten Spezialistinnen und Spezialisten zu kommen. Der Mangel an geschultem Personal bremst die Branche – und zwar deutlich mehr als alle anderen Faktoren, die bei der aktuellen Top-500-Umfrage abgefragt wurden.
Demnach erachten sieben von zehn befragten Entscheiderinnen und Entscheider den Fachkräftemangel als den Bremsklotz für das Business schlechthin. Der Anteil stieg im Vergleich zum vergangenen Jahr sogar noch um einige Prozentpunkte.
Interessant ist: Obwohl man in der Branche über eine Abkühlung des Marktes diskutiert, scheint das Geld bei den Kunden wieder lockerer zu sitzen.Den Anbietern sollte es an Aufträgen also nicht mangeln. Sehr wohl aber an den personellen Ressourcen, um diese auszuführen.

Mitarbeitende bei der Stange halten

Unternehmen müssen sich also etwas einfallen lassen, um an die besten Leute zu kommen. Die Top-500-Ausmarchung bringt hier zutage, dass ein Grossteil der befragten Firmen an den hauseigenen Arbeitskonditionen schraubt, um Fachkräfte anzulocken.
Quelle: ICT Analytics
Man sorgt nebst vielem anderem etwa für angenehme Arbeitsplätze oder nutzt ein transparentes und faires Lohnmodell. Gefördert wird von vielen zudem die Aus- und Weiterbildung innerhalb des Betriebs.Bei solchen Massnahmen gehe es nicht nur um das Rekrutieren von Fachkräften, sagt Matthias Keller, CEO und Inhaber der UMB.
«Viel wichtiger ist es, dass Kolleginnen und Kollegen langfristig im Team bleiben. Sie sollen sich begeistert engagieren können und die Möglichkeit haben, sich im Unternehmen laufend weiterzuentwickeln.» Er bemängelt, dass man stets primär davon spreche, wie schwierig es sei, neue Mitarbeitende zu rekrutieren. 
«In erster Linie sollte man ein Umfeld schaffen, in dem alle eine motivierende Zeit haben und mit dem die Fluktuationsrate möglichst tief gehalten werden kann.» Diese bewegte sich bei UMB in den vergangenen Jahren stets zwischen 5 und 7 Prozent.

Unternehmen auf dem Prüfstand

Wie gut die Bedingungen bei einem Arbeitgeber wirklich sind, das lässt sich heute ziemlich einfach mit Portalen wie Kununu oder Glassdoor herausfinden. Solche Firmenbewertungsplattformen bieten aktuellen oder ehemaligen Mitarbeitenden die Möglichkeit, den Arbeitgeber anhand diverser Kriterien zu bewerten. 
Quelle: ICT Analytics
Wer sich also bei einem Unternehmen bewerben will, der erhält dank dieser Plattformen ungeschminkte Informationen über den potenziellen Arbeitgeber. Die Auszeichnung «Great Place to Work» erhalten qualifizierte Arbeitgeber vom gleichnamigen Institut.
Organisationen ab 20 Personen können dort mitmachen. Für das Ranking werden die Mitarbeitenden der teilnehmenden Firmen danach anonym zu ihrer Meinung über den Arbeitgeber befragt.
Das Team der UMB wurde bereits dreimal hintereinander vom «Great Place to Work»-Institut als bester Arbeit­geber der Schweiz in der Kategorie der mittelgrossen Unternehmen ausgezeichnet (50 bis 249 Mitarbeitende). 2020 wird sich das UMB-Team in der Kategorie der Firmen mit mehr als 250 Angestellten erstmals mit den Grossunternehmen messen. Denn die UMB ist unterdessen gewachsen. 
Laut Keller arbeiten an den acht Standorten der IT-Firma inzwischen insgesamt über 360 Kolleginnen und Kollegen. Auf die Begriffe «Angestellte» oder «Mitarbeitende» verzichtet der UMB-Chef übrigens bewusst. Ausserdem erreichte UMB 2018 im Ranking der besten Arbeitgeber Europas – ebenfalls erstellt vom «Great Place to Work»-Institut – aus 2800 geprüften Unternehmen den sechsten Rang.
Für Keller ist klar, dass solche Auszeichnungen und positiven Bewertungen beispielsweise auf Kununu dabei helfen, potenzielle Kolleginnen und Kollegen vom Unternehmen zu überzeugen. «In Bezug auf die Strahlkraft des Unternehmens hilft uns das natürlich enorm», sagt der Unternehmer. Denn in der ICT-Branche werde nicht nur um die Kunden, sondern auch um die guten Talente gekämpft.

Langjähriger Prozess

Solche Auszeichnungen gibt es laut Keller nicht von heute auf morgen. «Vor zehn Jahren setzten wir uns zum Ziel, bis 2020 vom ‹Great Place to Work›-Institut zum besten Arbeitgeber Europas gekürt zu werden», erklärtder CEO.
Da ist er mit der UMB noch nicht ganz angekommen. «Aber es führte dazu, dass wir uns Jahr für Jahr in Workshops, Führungstrainings und Teamzufriedenheitsumfragen laufend hinterfragten. Die guten Resultate, die wir dabei erzielten, nahmen wir als Motivationsspritze, um uns weiter zu verbessern.»
“Jeder Franken ist gut angelegt, den wir bei UMB in unseren 'Great Place to Work' investieren„
Matthias Keller, CEO UMB
Sein Team kann zudem über ein Innovationsportal jederzeit Verbesserungsvorschläge einreichen. Mehrere davon werden jedes Jahr umgesetzt – beispielsweise ein neues Arbeitszeitmodell, nachdem Anpassungen und Verbesserungen gewünscht wurden.
«Aufgrund des Feedbacks aus dem Team überarbeiteten wir dieses vor zwei Jahren komplett. Das neue Modell bietet nun deutlich mehr Flexibilität und unternehmerische Eigenverantwortung», sagt Keller.
Wie viele Firmen, welche die Computerworld-Umfrage beantworteten, setzt auch der UMB-Chef zur Mitarbeiterbindung auf Aus- und Weiterbildung. Die eigene UMB Academy werde intensiv zum internen Austausch von Know-how genutzt.
Die Firma engagiert aber auch externe Referenten und bietet für das Team Kurse an, die über das Technische hinausgehen – von Persönlichkeitsentwicklung über Präsentationsskills bis zur Ernährungslehre.
Eine weitere Änderung betraf zudem das Ausbildungsbudget. Dieses wurde gänzlich abgeschafft. Gemäss Keller hat jeder Teamleader nun ohne Budgetrestriktion freie Hand, mit jeder Kollegin und jedem Kollegen individuell zu entscheiden, wie viel Zeit in die Ausbildung investiert werden soll.
«Dadurch sind unsere Ausgaben für die Aus- und Weiterbildung zwar deutlich gestiegen, aber das kommt dem Unternehmen schliesslich wieder zugute.»

Unternehmer mit sozialer Verantwortung

Im Frühjahr werteten Kununu und Pro Familia Schweiz, der Dachverband der Familienorganisationen, aus, welche Schweizer Arbeitgeber im Bereich der Familienfreundlichkeit mit Vorbildfunktion vorangehen.
 An die Spitze des Rankings schaffte es die Web- und App-Agentur Liip, die 2007 aus der Fusion von Mediagonal aus Freiburg und Bitflux aus Zürich hervorging. 
“Wir sehen uns als soziale Unternehmer, die etwas für die Gesellschaft tun wollen„
Nadja Perroulaz, Co-Founderin Liip
In die Auswertung wurden Arbeitgeber einbezogen, die innert Jahresfrist mindestens eine Bewertung auf Kununu bekamen und insgesamt mindestens 80 Bewertungen erhielten.
«Wir sehen uns als soziale Unternehmer, die etwas für die Gesellschaft tun wollen», sagt Nadja Perroulaz. Sie gründete Liip gemeinsam mit Christian Stocker, Gerhard Andrey und Hannes Gasser.
Einen Beitrag zum Thema Gleichstellung leistet die Web- und App-Agentur etwa, indem sie Vätern einen bezahlten Vaterschaftsurlaub von vier Wochen zuspricht. «Damit beabsichtigen wir auch, den jeweiligen Partnerinnen den Einstieg in das Berufsleben zu erleichtern.
Väter können den Urlaub beispielsweise genau dann beziehen, wenn die Frauen wieder anfangen zu arbeiten», erklärt Perroulaz. Liip bemüht sich insgesamt um stimmige Konditionen für die Arbeitnehmenden.
Der Co-Founderin zufolge will die Firma ein Gesamtpaket bieten – unter anderem mit der Möglichkeit zur Teilzeitarbeit, Jahresarbeitszeit, internen Weiterbildungsangeboten oder einem transparenten Salärsystem.
Die Web- und App-Agentur mit Niederlassungen in der Deutsch- und Westschweiz gehört zudem zu 100 Prozent den Mitarbeitenden und den Verwaltungsräten. Die Firma habe knapp 80 Aktionäre, die Nachfrage nach Liip-Papieren sei ungebrochen, sagt Perroulaz.
«Sobald jemand geht und die Aktien frei werden, gehen sie weg wie warme Weggli.» Indem es Mitarbeitende zu Aktionären macht, will man bei Liip Verantwortungsbewusstsein und unternehmerisches Denken fördern.

Modernes Organisationsmodell

Zum Gesamtpaket gehört auch, dass im Unternehmen nach dem holokratischen Modell gearbeitet wird – einer Methodik für Selbstorganisation (vgl. Kasten «Holocracy»). 
Grundsätzlich geht es bei diesem Modell darum, Kompetenzen anders zu organisieren. Entscheidungen werden dort gefällt, wo die Kompetenz liegt. «Man will wegkommen vom Denken, dass die Person, die am längsten dabei ist, immer alles besser weiss», erklärt Perroulaz.
Gleichzeitig finde auch ein Umdenken von Jobs zu Rollen statt. Teammitglieder haben nicht einfach einen Job, sondern füllen verschiedene Rollen. Dabei verfügt jede Rolle über Entscheidungskompetenz und übernimmt die maximale Verantwortung.
«Man muss keine Vorgesetzten im ‹Leiterlispiel› überzeugen, dass es eine gute Idee ist, etwas zu ändern», erläutert die Liip-Mitgründerin. Das sei ausschlaggebend gewesen für die Wahl von Holokratie als Organisationsform.
«Liip hatte schon von Anfang an eine flache Hierarchie. Wir bemerkten aber, dass es Bedarf an Struktur gibt, und suchten nach einem Modell, das nicht den klassischen Prinzipien von Hierarchie und Macht entspricht.»
Vorteilhaft am holokratischen Modell sei nun beispielsweise, dass die klassische Karriereleiter nicht mehr existiere. So riskiert man etwa mit einer Babypause oder einer längeren Auszeit keinen Karriereknick.
Organisiert ist Liip seit 2016 nach diesem System. Der Mitgründerin zufolge befürwortete das Team dieses. Bereits zuvor sei dafür eine Basis gelegt worden, da man mit agilen Projektmethoden wie Scrum arbeitete und Erfahrungen mit Cross-functional-Teams und -Gilden sammelte.
«Klar gab es, wie bei jedem Change, auch Befürchtungen und Zurückhaltung. Grundsätzlich herrschte aber eine sehr positive Einstellung.» Der Knackpunkt bei der Einführung solcher Systeme sei vielmehr das Führungsteam, ist Perroulaz überzeugt.
«Grundvoraussetzung dafür ist, dass es bereit ist, die ‹Kontrolle› oder ‹Macht› abzugeben. Wenn man dazu nicht bereit ist, dann funktionieren solche Modelle nicht.»

Rücksicht auf die Work-Life-Balance

Opacc war dagegen das erste «Friendly Work Space»-zertifizierte IT-Unternehmen der Schweiz. 2016 erhielt der Software-Hersteller das Label erstmals von Gesundheitsförderung Schweiz. Gemäss der Stiftung engagieren sich Friendly-Work-Space-Betriebe systematisch für gute Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeitenden.
Die Vergabe des Zertifikats basiert auf einem Assessment, das von externen Experten durchgeführt wird. Bei Opacc baute man dazu ein betriebliches Gesundheitsmanagement auf und verankerte dieses in der Unternehmensführung. Seit Jahren pflegt der ERP-Spezialist ausserdem eine Work-Life-Balance-Strategie.
Im Herbst letzten Jahres bezog Opacc seinen Campus in Rothenburg. Im Neubau arbeitet man seither unter einem Dach, zuvor war die Firma auf fünf Standorte verteilt. Der Opacc-Campus ist zunächst für rund 220 Mitarbeitende ausgelegt, bietet aber auf dem eigenen Gelände ein Ausbaupotenzial für weitere 400 Personen.
Beat Bussmann, der CEO von Opacc, kann sich gut vorstellen, dass der Bezug der neuen Räumlichkeiten zu mehr Bewerbungen geführt hat. «Der Campus kommt eigenständig daher und adressiert mit dem Raum- und Arbeitskonzept die aktuellen Vorstellungen vom optimalen Arbeitsplatz.»
Nebst dem Standort und dem Arbeitsumfeld im neuen Campus bietet Bussmann seinen Leuten unter anderem flexible Pensen, bezahlte Sabbaticals, unbezahlten Urlaub, Jahresarbeitszeit oder Home Office.Seiner Meinung nach sind jedoch fordernde und abwechslungsreiche Aufgaben nach wie vor die Grundlage, um langfristig als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben.Deshalb stelle Opacc auch gleichwertige Modelle für Führungs- und Fachkarriere zur Verfügung.

Investition in die Zukunft

Laut Opacc-Gründer Bussmann bildet der wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens die Grundlage dafür, die eigenen Vorstellungen eines Arbeitsplatzes und eines erfolgreichen Unternehmens leben zu können. «Insofern sind solche Investitionen auch Zukunftsprojekte, die den langfristigen Erfolg ebenso absichern wie die langfristige Selbstbestimmung als Unternehmen.»
Matthias Keller von UMB sieht das ähnlich und stellt hierbei auch eine andere Ausrichtung inhabergeführter Firmen fest. «Personalentscheide oder Investitionen werden womöglich im Bewusstsein getätigt, dass die Bestrebungen nicht das nächste Quartal besser machen, sich aber mittel- bis langfristig auszahlen werden.»Keller resümiert: «Jeder Franken ist gut angelegt, den wir bei UMB in unseren ‹Great Place to Work› investieren.»
Die Konzepte scheinen bei den drei Firmen punkto Rekrutierung jedenfalls aufzugehen: Opacc konnte in den letzten zwölf Monaten 18 offene Stellen besetzen. Liip rekrutierte im vergangenen Geschäftsjahr 21 neue Mitarbeitende. Und bei der UMB waren es gar über 80.
Holacracy
Holacracy ist ein holokratisches System, in dem man Arbeit auf dezentrale Weise steuern kann. Die Arbeit wird selbst organisiert in sogenannten Kreisen. Mitarbeiter können in den verschiedenen Kreisen Rollen innehaben und entsprechend Arbeit verrichten. Im Holacracy-Konzept führen Personen keine Mitarbeitenden, sondern Rollen. Eine Verfassung definiert die wichtigsten Regeln für die Organisation. Jedes Unternehmen muss auf Basis dieser Verfassung eine eigene Governance schaffen, nach der Rollen und Richtlinien beschrieben werden.
Wer Holacracy einführen will, muss einen langen Atem haben. Bis alle Mitarbeitenden in der neuen Struktur angekommen sind, können Jahre vergehen. Eine Reorganisation nach dem Holacracy-Modell erfordert daher das absolute Commitment der Geschäftsleitung. Schliesslich geht es um einen tief greifenden Transformationsprozess. Der Rahmen, wie man mit anderen zusammenarbeitet, wie Entscheidungen getroffen werden, ändert sich, was Probleme im Arbeitsalltag nach sich ziehen kann. Konflikte ergeben sich etwa durch alte Muster, die sich in der Zusammenarbeit festgesetzt haben. Das können beispielsweise alte Machtstrukturen sein, die als Schattensysteme weiterbestehen. 
Führungskräfte müssen daher loslassen und ihren Mitarbeitenden vertrauen können. Diese müssen wiederum eine hohe Eigen­motivation mitbringen. Das kann zu hohem Druck führen und mitunter die Leute überfordern, warnen Fachleute. Wegen der hohen Komplexität lässt man die Reorganisation zu einem Holacracy-Modell am besten von externen Coaches begleiten. Übrigens gibt es die Idee der selbstorganisierenden Teams schon länger, sie wird in unterschiedlichen Formen angewandt. Unternehmen wie WL Gore, Morningstar, Semco oder Spotify wenden eigene Varianten an. (gsa)



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