Neue Arbeitswelten 07.07.2022, 05:23 Uhr

Arbeiten im Metaverse

Wenn heute über das hybride Arbeiten geschrieben wird, ist von Büros und vom Home Office die Rede. Morgen könnte Arbeit komplett im ­virtuellen Raum stattfinden. Aber: Wer arbeitet wie im Metaverse?
Die Datenbrille ist für das Arbeiten im Metaverse ein unerlässliches Hilfsmittel
(Quelle: Shutterstock/StockCanarias)
Zwei von drei Konsumentinnen und Konsumenten ­haben im vergangenen Jahr ein Produkt im virtuellen Raum gekauft oder an einem virtuellen Anlass teilgenommen. Beides natürlich im Büro oder im Home Office respektive in den eigenen vier Wänden. Geht es nach den Ergebnissen einer Umfrage von Accenture unter über 11 000 Verbrauchern aus 16 Ländern, glaubt mehr als die Hälfte (55 %), dass sich der Alltag immer mehr in die virtuelle Welt verlagern wird. Mit entsprechenden Konsequenzen für die reale Welt – sprich auch für die Arbeit und die Freizeit.
Der mediale Alltag von Jugendlichen in der Schweiz ist schon heute stark durch die Handy- und Internet-Nutzung geprägt. Die «James»-Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und Swisscom ­konstatierte 2020, dass beeindruckende 99 Prozent der Jugendlichen in ihrer Freizeit das Natel nutzen. Jede und ­jeder Dritte (34 %) spielt regelmässig Videogames, wobei es einen grossen Geschlechterunterschied gibt: 79 Prozent der Jungen und 56 Prozent der Mädchen gamen ­sogar täglich oder mindestens mehrmals pro Woche. So sind die jungen Konsumenten bereits in dem einen oder anderen «Metaverse» unterwegs, sei es «Elden Ring», «Fortnite» oder «Pokémon Legends – Arceus». Die Digitalagentur Sensor Tower zählte Anfang Jahr über 550 Smartphone-Apps, die durch das Schlagwort «Metaverse» die Aufmerksamkeit der User erhaschen wollten.

Programmierer der virtuellen Welt

Eine «echte» Metaverse-App gibt es bis anhin noch nicht. Die Firma hinter Facebook, Meta, wird auch nicht nur eine App lancieren, wenn sie ihr Metaverse fertig gebaut hat. Bis dahin liegt aber noch viel Arbeit vor den Entwicklern, ­Administratoren in den derzeit 49 Rechenzentren (und bald 47 weiteren, die gerade gebaut werden), Brillen­herstellern, PC-Supportern und den Systemarchitekten. Sie leisten ­derzeit viel Arbeit, damit die Vision des Metaverses zur (virtuellen) Realität wird. Der Chip-Hersteller Intel weist etwa darauf hin, dass das Echtzeit-Rendering von zwei Per­sonen in einer fotorealistischen Welt immense Computing-­Power erfordert. Damit sich Hunderte oder gar Millionen Menschen in einer virtuellen Um­gebung treffen können, ist die 1000-fache Leistung der heute gängigen Com­puter notwendig, so Raja Koduri, General Manager der Accele­rated Computing Systems and Graphics Group bei Intel, in ­einem Blogpost. Der Chip-Konzern stelle Programmierern heute Entwickler-Kits bereit, mit denen sie Code schreiben können, der von zukünf­tigen High-Performance-Platt­formen unterstützt wird, führt Koduri aus. 
Den Entwicklern von Grafikprozessoren und Treiber-Software kommt in der virtuellen Welt eine besonders grosse Bedeutung zu. Bei den Videospielen beweisen sie heute schon, dass sie Chips und Software bereitstellen können, um auch grösseren Gruppen von Gamern ein fotorealistisches Erlebnis bieten zu können. Der CEO des Grafikchip-Marktführers Nvidia, Jensen Huang, sieht das Gaming nur als Beginn einer grösseren Entwicklung. «Nvidia ist als Computer-Unternehmen gestartet. Bald stellte sich he­raus, dass Videospiele die erste Killer-Applikation für uns sein sollten», sagte er jüngst in einem Interview mit dem «Time»-Magazin. Mittlerweile entwickle Nvidia zum Beispiel mit dem Autohersteller BMW einen digitalen Zwilling einer Fabrik. In der virtuellen Welt könnten so neue Fertigungsverfahren zunächst erprobt werden, bevor sie in der Fabrik tatsächlich zum Einsatz kommen. Für Huang ist die Fertigungsstätte aber auch nur ein Anfang. Es werde ein virtuelles New York City geben, in dem alle Gebäude der realen Stadt nachgebildet sind. Dann könnten Städte­planer zuerst am 3D-Modell testen, ob ein weiterer Teich im Central Park mehr Besucher anlockt, bevor die Bagger dann tatsächlich auffahren.
3D-Designer wie Blender oder Unity sind die erste ­Voraussetzung für das Erschaffen des Metaverse, Laufzeitumgebungen wie CryEngine, Frostbite oder die populäre Unreal Engine die zweite. Als dritte braucht es noch ­Virtual-Reality-Hardware, sprich Brillen. Hier kommen ­Magic Leap sowie auch Metas (Facebooks) Oculus Rift ins Spiel. Um für die User schon jetzt interessant zu sein, benötigen die Brillenhersteller mit patentierten Technologien hoch spezialisierte Software-Entwickler, damit den Brillenträgern eine komplett oder teilweise virtuelle Welt realitätsnah präsentiert werden kann. 
Geht es nach dem von Sony unterstützten Start-up H2L Technologies, dann wird es im Metaverse nicht nur visuelle Erlebnisse geben. Die Japaner haben ein Armband entwickelt, das kleine Elektroschocks aussendet, mit denen den Benutzern und Avataren im Metaverse aber nicht nur Schmerz, sondern auch das Gefühl von Gewicht und Widerstand vermittelt werden kann. Wie Firmengründerin Emi Tamaki sagt, könne mit der elektrischen Stimulation des Armbands eine Reihe sinnlicher Empfindungen nachgeahmt werden, vom Fangen eines Balls bis zum ­Zwicken eines Vogels in die Haut des Trägers. Die Sinnesstimulation soll es ermöglichen, das Metaverse in eine ­reale Welt zu verwandeln, mit einem verstärkten Gefühl der Präsenz und des Eintauchens.
Das Beispiel H2L zeigt: Die Programmierung des Meta­verse findet keineswegs nur in den USA statt. «Das Zürcher Büro ist – auch aufgrund unseres Entwicklungsschwerpunkts auf Augmented Reality und Virtual Reality – ein wichtiger Treiber für die Innovationsfähigkeit unseres ­Unternehmens und wird für uns weiter an Bedeutung ­gewinnen», erklärte Tino Krause, Country Director DACH bei Facebook, anlässlich der Eröffnung der neuen Räumlichkeiten an der Giesshübelstrasse in Zürich. Dort hat es Platz für mehr als 200 Mitarbeitende.

Wirtschaftsmotor Metaverse

Weniger in Zürich als vielmehr in der Europäischen Union sucht Meta derzeit Tausende Talente. Die Recruiter sind hauptsächlich in Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Polen und Spanien auf der Suche nach Software-Ingenieuren. Das Ende vergangenen Jahres aus­gegebene Ziel von 10 000 Neuanstellungen würde für den Facebook-Konzern ein weiteres massives Personalwachstum bedeuten. Aktuell zählt Meta rund 78 000 Angestellte, über 28 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Dort noch nicht berücksichtigt sind die neuen Angestellten in den «Meta Stores», in denen der Konzern seit einem Monat ­unter anderem VR-Brillen, Games sowie weiteres Zubehör präsentiert und auch vertreibt. 
Der Facebook-Mutterkonzern Meta unterhält seit Mai einen eigenen Store südlich von San Francisco
Quelle: Meta
Die Stores von Meta beschäftigen natürlich auch ­Detailhandelsfachleute. So listen dann Stellenbörsen wie Jobs.ch, LinkedIn oder Monster unter dem Stichwort ­«Metaverse» nicht ausschliesslich Entwicklerpositio­nen, sondern auch Jobs in den Bereichen Design, Marketing, Vertrieb sowie für Arbeiten in verwandten Technologien, einschliesslich Blockchain und Kryptowährungen. In der Schweiz waren Anfang Juni über 40 Jobs in diesem Kontext ausgeschrieben.
Die Zahl der Stellenangebote mit Metaverse-Bezug dürfte sich in den kommenden Jahren rasch vervielfachen, sagen Wirtschaftsexperten. Die Analysten der US-amerikanischen Citigroup schätzen, dass der Gesamtmarkt für die Metaverse-Wirtschaft bis 2030 auf bis zu 13 Billionen US-Dollar anwachsen könnte. In ihrem 184-seitigen Bericht gehen sie zudem davon aus, dass die Anzahl Metaverse-Nutzer dann bis zu fünf Milliarden betragen könnte. Die US-Investmentbank Goldman Sachs sieht für die ­Metaverse-Wirtschaft ein ähnlich grosses Marktpotenzial (12 Billionen US-Dollar). Goldman Sachs erwartet, dass sich ein Drittel der digitalen Wirtschaft in die virtuellen Welten verlagern wird. Die Marktforschungsfirma Gartner schliesslich prognostiziert, dass schon in vier Jahren jede vierte Person mindestens eine Stunde pro Tag im Metaverse verbringen wird. Die User werden in der virtuellen Welt spielen, sich unterhalten lassen, sich fortbilden, einkaufen und auch arbeiten. Nicht weniger als jede Unternehmung und Organisation werde ein Angebot oder ­einen Platz im Metaverse haben, was angesichts der rasanten Entwicklung schon jetzt seine Schatten vorauswirft, so Gartner. Die Firmen, die während und nach der Pandemie ihren Angestellten elektronische Arbeitsplätze bereit­stellen, werden in Zukunft virtuelle Büros mit neuartigen Kollaborationsmöglichkeiten anbieten.
«Snow Crash» und «Ready Player One»
Das Schachtelwort «Metaverse» – aus «Meta» (für Jenseits) und «Universum» – prägte der US-amerikanische Schriftsteller Neal Stephenson 1992 in seinem Science-Fiction-Roman «Snow Crash». Er spielt in Los Angeles in einer nicht ­allzu fernen Zukunft. Sämtliche staatlichen Organisationen sind privatisiert, selbst die Polizei und die Regierung. Grosskonzerne sorgen mit strengen Vor­gaben für gesellschaftliche Ordnung, was zu extremer sozialer Ungleichheit führt. Die ­Bürger flüchten sich immer häufiger in das «Metaversum», in dem sie sich als Avatare frei bewegen können. Die Hauptperson Hiro und seine Mitstreiterin Y. T. stossen in der virtuellen Realität auf die Droge «Snow Crash», mit welcher der Medienmogul Bob Rife die Menschheit unter seine Kontrolle bringen will.
19 Jahre nach Stephenson publizierte der US-amerikanische Schriftsteller ­Ernest Cline den Science-Fiction-Roman «Ready Player One», der 2018 von Steven Spielberg verfilmt wurde. Auch hier flüchten die Menschen aus der verseuchten realen Welt in das Metaversum «Oasis». In dieser vom Game-Designer James Donovan Halliday programmierten virtuellen Welt können die Benutzer fast alles tun und erleben. Vor seinem Tod versprach der «Oasis»-Erfinder dem Finder eines versteckten Easter Eggs sein Erbe. Der Hauptakteur ­Wade Watts fand den ersten Anhaltspunkt und machte sich auf die Suche. Dafür spannte er mit vier Teenagern zusammen und löste mit ihnen Rätsel, die in der Popkultur des 20. und 21. Jahrhunderts verpackt sind. Bei der Verfilmung von «Ready ­Player One» kamen unter anderem auch Oculus-Brillen zum Einsatz.

Kunstmarkt als Vorbote

Der Zürcher Künstler Oibel versteigerte gemeinsam mit der Versicherung Smile virtuelle Kunstwerke
Quelle: Smile Versicherung
Heute verdienen die Software-Entwickler und Marketing­s­trategen schon gutes Geld mit dem Metaverse. Das gilt auch für Kreative, die (virtuelle) Kunstwerke veräussern. Dabei spielen «Non-Fungible Token» – oder kurz NFT – eine zentrale Rolle, die ein virtuelles Objekt zu einem ­Unikat mit einem festgeschriebenen Eigentümer machen. NFTs können zum Beispiel Bilder, Code, Texte, Videos oder ­andere digitale Daten sein. Ihre Eigenschaften und ihr ­Besitzer sind in einer Blockchain abgelegt, womit sie ­einen Wert haben und auch gehandelt werden können. Ein ­bekanntes Beispiel ist der NFT des ersten Tweets von Twitter-Gründer Jack Dorsey, der im März vergangenen ­Jahres für rund 2,9 Millionen US-Dollar verkauft wurde. Käufer war der Kryptopionier Sina Estavi. «Dieser NFT ist nicht ein Tweet, es ist die Mona Lisa der digitalen Welt», kommentierte er den Millionenkauf.
Die NFTs als virtuelle Abbilder von (Kunst-)Gegenständen eröffnen Kreativen in aller Welt bereits jetzt einen globalen Markt. Auktionshäuser wie Christie’s oder Sotheby’s sowie in der Schweiz Koller und Schuler bedeuteten bis anhin hohe Hürden für den Handel mit Kunst. Nun genügen wenige Mausklicks, um eine Kreation einer globalen Käuferschaft anzubieten. Ein Job im Metaverse wird der Kunstsachverständige sein, der NFTs schätzt. Ein anderer der des Auktionators. Eine künstliche Intelligenz respektive Roboter könnten aber auch diese Rollen übernehmen, da sie typischerweise strengen Regeln folgen und Transparenz bei den Versteigerungen eine Grund­voraussetzung ist.
Die Rolle des Künstlers dürfte so schnell nicht von Robotern vereinnahmt werden, glaubt auch die Helvetia-Tochtergesellschaft Smile. Sie hat im Juni mit dem Zürcher Künstler Oibel zusammengespannt für eine NFT-Auktion. Zugunsten der Charity-Organisation Viva von Agua, die Trinkwasserprojekte in Afrika unterstützt, wurden vier Kunstwerke in Auflagen von 1 bis 100 Stück auf dem NFT-Marketplace OpenSea versteigert. Der Erfolg blieb zwar bescheiden, für Smile ging es bei der Auktion aber auch darum, erste Erfahrungen mit Smart Contracts zu sammeln. Die digitalen, sich selbst erfüllenden Verträge ­basieren auf der Blockchain-Technologie. Dabei werden die ­Bedingungen der Vereinbarung zwischen Käufer und ­Verkäufer direkt in Codezeilen geschrieben, automatisch ­ausgeführt und sind unveränderbar. «Als digitaler Vorreiter der Versicherungsbranche gehen wir auch hier mutig ­voran und sammeln gleichzeitig wertvolle Erfahrungen mit neuen Möglichkeiten wie Smart Contracts zur Sicherheit im digitalen Raum», so Smile-CEO Pierangelo Campo­piano über den Hintergrund der Auktion.

Heisser Immobilienmarkt

Auch digitale Kunst braucht einen adäquaten Rahmen, glaubt das Beratungsunternehmen Inacta aus Zug. «Wenn man sieht, welcher Run in den letzten Monaten beispielsweise auf digitale Kunst eingesetzt hat, dann liegt es auf der Hand, dass die Besitzer ihre Kunstwerke und Sammlerstücke zudem in der digitalen Welt präsentieren ­wollen», so Blockchain-Experte Daniel Rutishauser. «Wir bei Inacta haben eine virtuelle Insel mit Pavillons erstellt, die Firmen für ihre Zwecke nutzen können.» Entsprechend tun auch Galerien und Museen gut daran, sich mit dem Metaverse zu beschäftigen und Ausstellungskonzepte für digitale Kunst zu entwerfen.
In der virtuellen Welt «Decentraland» existieren bereits Kunstgalerien, Spielhallen und Unterhaltungsparks. ­Diverse Projekte hat der spanische Computerspiele-­Designer Daniel García Aranda realisiert, der mit seinem Studio Polygonal Mind zu den wichtigsten Architekten von «Decentraland» gehört.
Der Zuger IT-Dienstleister Inacta ver­mietet im Metaverse einen Pavillon an seine Kunden
Quelle: Inacta
Die Welt ist neben «The Sandbox» eine der grössten Metaverse-Plattformen. Wer heute die Technologien ­erproben will, kann in beiden Welten Land kaufen – mit Krypto­währungen versteht sich. Da alle Transaktionen auf der Blockchain-Technologie basieren, braucht es weder Grundbuchämter noch Makler, denn der Handel erfolgt vollautomatisch über Smart Contracts. US-amerikanische Analysten haben ermittelt, dass 2021 mit dem Verkauf von Grundstücken und Gebäuden im Metaverse Umsätze von mehr als 500 Millionen US-Dollar generiert wurden. Zum Vergleich: Das Marktforschungsunternehmen BAK Economics registrierte nur im Hochbau in der Schweiz 2021 Investitionen von rund 54 000 Millionen Franken. Über die Ausgaben für Baugrund macht BAK keine Angaben. Und noch ein Vergleich: Die kleinste Parzelle auf «Decentraland» (16 × 16 Meter) kostet aktuell umgerechnet rund 6000 Franken, der (virtuelle) Quadratmeter also knapp 24 Franken. Der durchschnittliche Quadratmeterpreis für Bauland in der Schweiz liegt bei ca. 600 Franken. Virtuelles Land wird also für einen Zwanzigstel des ­realen Baulands gehandelt.

Gucci-Taschen und Schweizer Mode

Das Bauland ist einerseits ein Spekulationsobjekt für Anleger, aber andererseits auch ein Ort für virtuelle Überbauungen wie eben Kunstgalerien, Event Locations oder auch Boutiquen. Ein Fortnite-Konzert von Travis Scott zählte 27,7 Millionen Besucher – weit mehr, als ein typisches Konzert unterbringen kann. Die Edelmarke Gucci schuf im Jahr 2021 «The Gucci Garden Experience» für virtuelle Produkte und verkaufte einen reinen digitalen Zwilling einer Handtasche zu einem höheren Preis als ihr reales Gegenstück. Den umgerechnet fast 1600 US-Dollar für die vir­tuelle Gucci standen 1350 US-Dollar für einen vergleichbaren «Dionysus Mini Chain Bag» gegenüber. Für die ­zusätzlichen Einnahmen im Metaverse musste Gucci nur ­einige Hundert Zeilen Programmcode schreiben, die sich nun wiederverwenden lassen. Zusätzliches Personal, das Engagieren einer Werbeagentur oder auch ein Lieferdienst für die Luxushandtaschen waren nicht erforderlich.
Den Schritt ins Metaverse bereits gegangen ist das Kaufhaus Jelmoli. Gemeinsam mit dem Zürcher Lehr­atelier Modeco und der STF Schweizerischen Textilfachschule wurde das Projekt «The Power of Craft» lanciert. Dafür hat Jelmoli einen eigenen Verkaufsraum realisiert, der mittels Virtual-Reality-Brillen betreten werden kann. Hier können Kundinnen und Kunden die von Studierenden der STF designten und von Lernenden des Ateliers Modeco produzierten Kleidungsstücke als NFT kaufen.
Wer mittels der Kryptowährung Ethereum ein solches ­Fashion-Piece ergattert, bekommt das physische, reale ­Designerstück kostenfrei mit dazu. Der Kaufhauskonzern rechnet bei dem Projekt zwar nicht mit einem Millionenumsatz, will aber die Möglichkeiten des Metaverse testen im Hinblick auf die Zukunft des Einkaufens. Für die Textil­fachschule ist das Metaverse eine Technologie, mit der die Studierenden die im Unterricht vermittelten Kenntnisse mittels Avataren auf ein neues Anwendungsfeld transferieren können. Jelmoli benötigt also weiterhin ­Detailhandelsverkäufer und die SFT Modedesigner, beide mit fortgeschrittenen Computerkenntnissen.

Strassenbau und globale Lieferketten

Wie breit das Anwendungsspektrum des Metaverse in Zukunft sein könnte, illustriert folgendes Szenario: An einem beliebigen Tag im Jahr 2030 bedient eine Vorarbeiterin eine Strassenwalze auf einer Baustelle in Spreitenbach. Sie und ihr Kollege unterhalten sich über die nächste Bauphase, während sie einen Bauroboter anweist, Asphalt auf den nächsten Abschnitt der Überlandstrasse zu giessen. Im nächsten Moment erscheint ihr Assistent als Hologramm am Rande der Baustelle und winkt sie zu sich, um sie daran zu erinnern, dass es Zeit ist, sich mit dem ­Bauamts-Gruppenleiter wegen eines anderen Projekts kurzzuschlies­sen. Sie geht zum Baustellenbüro, setzt ihr VR-Headset auf und findet sich in der Lobby der virtuellen Gemeindeverwaltung wieder. Dort taucht ihr Hologramm-Assistent wieder auf und weist ihr den Weg zum virtuellen Konferenzraum, in dem die Besprechung stattfinden wird. Als sie den Raum betritt, verwandelt sich der Raum in den Ort der neuen Baustelle – eine Unterführung –, die von einer Drohne live gefilmt wird. Baupläne aus der Verwaltungs-Cloud des Kantons Aargau werden über das Livebild­material gelegt und sie und der Gruppenleiter beginnen mit der Planung der anstehenden ­Arbeiten. Anschliessend schickt die Vorarbeiterin ihren ­virtuellen Assistenten los, um die Anträge für die nächste Runde der Baugenehmigungen einzureichen. Dann schaltet sie ihr Headset ab und geht zurück auf die Baustelle.
In diesem Fall vereinfacht die virtuelle Welt die Arbeit. Sie kann aber auch helfen, Probleme zu lösen, wie die frühere Schweiz-Chefin von Microsoft, Marianne Janik, an der diesjährigen Hannover Messe ausführte. Sehr viele Unternehmen hätten sich in der Corona-Pandemie und den ­damit verbundenen Einschränkungen für die Arbeitswelt mit Verfahren auseinandergesetzt, bei denen bestimmte ­Szenarien zunächst virtuell durchgespielt wurden. Erst anschliessend wurden sie in der Entwicklung oder der Fertigung von Produkten umgesetzt. «Das ist quasi das industrielle Metaverse», so Janik. In diesem industriellen Meta­verse könne man Dinge vollbringen, die man früher mit einem deutlich höheren Aufwand physisch gemacht habe. «Man kann beispielsweise auch vorab feststellen, wie man in der Produktion bestimmte Komponenten ersetzen kann, die zeitweise nicht verfügbar sind», so die heutige Deutschland-Chefin von Microsoft. Angesichts je länger, je mehr fragiler Lieferketten sind Unternehmen gut be­raten, ihre Geschäftsprozesse in einem virtuellen Metaverse abzubilden. Die Investitionskosten sind (noch) überschaubar, der Nutzen aber potenziell riesig.
Second Life
Der frühere RealNetworks-CTO Philip Rosedale hatte bereits Ende der 1990er die Idee, eine virtuelle Welt zu erschaffen. Er gründete 1999 die Firma Linden Labs und veröffentlichte 2003 «Second Life». Sie basiert auf einer von Linden Labs betriebenen Serverfarm («Grid»).
Die virtuelle Welt kann von den Benutzern respektive ihren ­vir­tuellen Abbildern, den «Avataren», mitgestaltet werden. Mit «Linden Dollar» lässt sich zum Beispiel Land im «Grid» kaufen, vir­tuelle ­Objekte erwerben oder auch eigene Kreationen (unter anderem mit der 3D-Software Blender) wieder veräussern. Der Linden Dollar kann für US-Dollar eingetauscht werden.
Das «Second Life» verzeichnete zunächst einen grossen Benut­zerzuspruch. 2013 zählte Linden Labs rund 36 Millionen Benutzer­konten. Damals waren zwischen 30 000 und 65 000 User rund um die Uhr eingeloggt. Dafür benötigen sie auch heute noch eine spe­zielle ­Client-Software, in der einerseits der «Avatar» gespeichert ist. ­Andererseits rendert der Client die 3D-Animation der «Second Life»-Welt. Dem User wird damit ein Raumgefühl vermittelt, das visuelle Effekte und Sounds inkludiert. Die Steuerung der «Avatare» erfolgt per Maus und Tastatur, Technolo­gien wie Augmented oder Virtual Reality werden bewusst nicht ­unterstützt. Auch läuft der Client nur unter Windows, macOS und ­Linux. Eine Smartphone-App befindet sich nach Angaben von Linden Labs in der Entwicklung.
Der Gründer Rosedale hatte Linden Labs 2009 verlassen. Im Januar dieses Jahres kehrte er jedoch als Berater zurück. Wie in den Anfangsjahren glaubt Rosedale auch heute noch nicht an den Durchbruch der Virtual Reality. War es damals die geringe Leistungsfähigkeit der Rechner, ist es heute der immer noch mangelnde Benutzerkomfort der Datenbrillen, argumentiert er. Der Pionier ist sich aber sicher, mit «Second Life» eine wichtige Rolle spielen zu können, ­bevor sich das Metaverse durchsetzt.



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