Zwischen 0 und 1 27.08.2024, 07:35 Uhr

Die Welt ist im Umbruch – wir müssen reagieren

Krisen häufen sich, aber auch spektakuläre Unternehmenserfolge. Wir müssen uns dem Phänomen endlich stellen. Neugier ist (wieder) erste Bürgerpflicht.

Reinhard Riedl
(Quelle: Fachhochschule Bern/Reinhard Riedl)
Mit der Digitalisierung ist eine fundamentale Transformation der Gesellschaft verbunden. Jeder einzelne Aspekt dieser Transformation, jede Teilveränderung erscheint uns harmlos. Deshalb fällt uns die Transformation als Ganzes kaum auf. Viele sind überzeugt: La transformation digitale n’existe pas!
Doch der Schein trügt. Zum einen sind viele dieser Veränderungen nur für die Mehrheit von uns harmlos (und im Wesentlichen positiv), eine Minderheit ist schwer betroffen (negativ oder auch positiv). Zum anderen finden die Veränderungen in vielen Bereichen gleichzeitig statt. Summiert man alle auf, so resultiert eine sehr weitgehende gesellschaftliche Veränderung.
Das Verständnis dieser Veränderungen ist schwierig. Schon die einzelnen Trends lassen sich nur schwer analysieren: Zu vielen gibt es einen Gegentrend – z.B. Cyber-Currencies (die alle Finanztransaktionen verheimlichen) gegen AIA (Automatischer Informationsaustausch) – und viele tragen in sich selbst eine grosse Widersprüchlichkeit. Oft sind inkompetente und missbräuchliche Nutzungen der Digitaltechnologie ein Problem oder es ist sogar der eigentliche Nutzen das Problem. Vieles spricht dafür, dass die an sich wunderbar nützlichen Smartphones wesentlichen Anteil am starken Anstieg psychischer Erkrankungen junger Menschen haben. Da aber der Widerspruch zwischen Nutzen und Schaden schwer auszuhalten ist, haben es solche Erkenntnisse schwer, wahrgenommen zu werden.
Doch die eigentliche Herausforderung für unsere Gesellschaft ist eine sehr viel Grundsätzlichere: Die eigentlichen Herausforderungen ist nicht der Fracture Numerique zwischen Digital Natives und Digital Immigrants, nicht die wachsenden psychischen Erkrankungen, nicht die wachsenden politischen Spaltungen, nicht die alltägliche Cyberangriffe totalitärer Staaten – die eigentliche Herausforderung ist der emergente Anspruch, neugierig sein zu müssen. Um gute Arbeit leisten zu können, muss man sich in vielen Jobs für die Veränderungen in der Welt interessieren. Man muss sich neu so verhalten, wie einst der intelligentere Teil der Elite dies tat.
“Die eigentliche Herausforderung ist der emergente Anspruch, neugierig sein zu müssen.„
Reinhard Riedl
Genauer: Der elitäre Anspruch existiert in intellektueller Hinsicht. Niemand muss lernen, mit Bücherstapeln auf den Schultern zu essen, schön stehen und gehen zu können oder klar artikuliert zu sprechen. Wichtig ist vielmehr in Wahrnehmung und Analyse, wie auch im eigenen Engagement, sich an elitären Idealen – Neugier, Balance zwischen Nähe und Distanz zur Welt, Altruismus – zu orientieren. 
Dieser Anspruch nach elitärer Idealen kommt auch nicht von der Gesellschaft, sie bewegt sich in entgegengesetzter Richtung. Er kommt von der Welt an sich und von ihrer Komplexität. Ohne diese Neugier werden wir wirtschaftlich zurückfallen, Handlungsautonomie verlieren und – vielleicht mit Ausnahme der Schweiz – uns von Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft verabschieden. KI kann Neugier und Altruismus nicht ersetzen! Wir können die digitale Transformation nicht an sie delegieren.



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