21.03.2011, 06:00 Uhr

Die neue Selbstständigkeit

Wer in der Schweiz über einen anerkannten IT-Abschluss und ausreichend Berufserfahrung verfügt, sollte die Option Selbstständigkeit zumindest in Er­wä­gung ziehen. Neben einer höheren Arbeitszufriedenheit lockt auch ein höherer Verdienst.
Freiheit statt Routinetrott, Foto: © kallejipp / Photocase.com
Der Autor gehört der Leitung des Masterstudiengangs MAS Cultural Media Studies der Zurich University of the Arts (Departement for Cultural Analysis) an und leitet seit März 2010 das Forschungsprojekt «Cultural Entrepreneurship». Eine kürzlich durchgeführte Nationalfondsstudie, in der die Lebens- und Arbeitssituation von sogenannten neuen Selbstständigen in den Branchen IT, Medien und Kultur verglichen wurde, hat gezeigt, dass einzig und allein Selbstständige im IT-Bereich mit einer «Risikoprämie» in Gestalt eines gegenüber Angestellten höheren Durchschnittsjahresverdiensts rechnen können. Auch ist das Risiko, das sie mit der Aufgabe einer festen Anstellung eingehen, vergleichsweise niedrig. Denn schon seit dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 erleben viele IT-Mitarbeiter, dass eine selbstständige Tätigkeit kaum grös­sere Beschäftigungsrisiken birgt als die Anstellung in einem IT-Unternehmen. Zumal letzteres weniger flexibel und mit höheren Fixkosten als Solo-Selbstständige arbeitet. Kultur- und Medienschaffende wie auch Journalisten können da nicht mithalten, im Gegenteil. Sie gehören – zumindest in materieller Hinsicht – oft zu den grossen Verlierern der Selbstständigkeit. Ihre Einkommen sind tiefer und ihre Risiken deutlich höher als bei ihren festangestellten Kollegen und Kolleginnen. (Die detaillierten Ergebnisse des Vergleichs finden Sie in «Freischaffen und Freelancen in der Schweiz», siehe Buchtipp.) Obwohl es nicht immer einfach ist, den Grad an Freiwilligkeit exakt zu bestimmen, mit dem die Entscheidung für die Selbstständigkeit getroffen wird, lässt sich dennoch behaupten, dass sich die grosse Mehrheit der IT-Mitarbeiter nicht durch Zwangsmassnahmen wie Outsourcing oder Entlassung in die Selbstständigkeit gestossen sieht. Bei IT-Mitarbeitern dominieren meist nicht die materiellen Motive. Viele versprechen sich mehr Autonomie, berufliche und private Flexibilität sowie Konzentration auf spannende Arbeitsinhalte statt auf frustrierendes Funktionieren in betrieblichen Hierarchien. Erwartungen diese Art erfüllen sich meist und führen gegenüber angestellten IT-Mitarbeitern zu einer deutlich erhöhten Arbeitszufriedenheit. Solo, Leiharbeiter oder eigene GmbH? Hierzu passt auch, dass das häufigste beruf­liche Profil von IT-Selbstständigen dem eines qualifizierten solo-selbstständigen Dienstleisters mit anerkanntem Experten-Know-how entspricht. Dienstleister dieser Art wickeln typischerweise grössere Aufträge eher nacheinander denn nebeneinander ab. Dabei lassen sich viele von einer Leihfirma anstellen und an gros­se Unternehmen, etwa Banken- oder Ver­sicherungsunternehmen, «verleihen». Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich das Einfügen dieser externen IT-ExpertInnen in bestehende betriebliche Arbeitsteams meist reibungslos vollzieht. Für Auftragsakquise und Geschäftsrisiko bleiben die Solo-Dienstleister aber dennoch uneingeschränkt selbst verantwortlich. Das Gründen einer eigenen GmbH lohnt sich dagegen oft nicht. Dass aber Leihfirmen überhaupt eingeschaltet werden, hat vor allem sozialversicherungs- und steuerrechtliche Ursachen. Für Angestellte einer Leihfirma ist beispielsweise das Abrechnen der AHV viel unkomplizierter als für formell Selbstständige. Obwohl sich die Inanspruchnahme von Leihfirmen meist unkompliziert gestaltet, bedauern doch viele Selbstständige, dass sie den etwas zweifelhaften rechtlichen Status eines Scheinangestellten übernehmen müssen. Angesichts der stark gewachsenen Zahl von Solo-Selbstständigen in vielen Dienstleistungsbranchen könnte sich daher das Nachdenken über Anpassungen bestehender oder gar die Entwicklung einer neuen eigenständigen Unternehmensrechtsform durchaus lohnen, die dem Anspruch auf Identität und Status der faktisch Selbstständigen mehr entgegenkommt. Ein eigenes Profil weisen IT-Quereinsteiger mit Berufslehre auf, die sich selbstständig machen. Zwar übernehmen sie anfänglich nicht selten Randbelegschaftsfunktionen. Dies geschieht etwa dann, wenn sie für das Bewältigen von Arbeitsspitzen in grossen Unternehmen eingesetzt werden. Doch haben sie durchaus Chancen, sich mit der Zeit ein eigenständiges Expertiseprofil zu erarbeiten, wenn sie anspruchsvolle Aufträge ergattern können und sich dabei konsequent – formal und on the job – weiterbilden. Weitaus seltener sind jene IT-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen, die den Traum verfolgen, ein eigenes Unternehmen als GmbH oder in anderer Rechtsform zu gründen und dabei explizit auch Wachstumsperspektiven verfolgen. Gerade die starke Orientierung an den Arbeitsinhalten, das geringe Interesse an Personalführung und der insbesondere im Grossraum Zürich bestehende lukrative Markt für anspruchsvolle IT-Dienstleistungen halten viele Selbstständige von klassischen Unternehmensgründungen ab. Herausforderungen und Risiken Unternehmensgründer betreiben in der Anfangsphase oft Quersubventionierung und investieren das Einkommen, das sie als selbstständige Dienstleister erwirtschaften, in ihren Geschäftsaufbau. Das ist dann riskant, wenn sie Reserven angreifen, die sie eigentlich zur Ab­sicherung des laufenden Geschäfts benötigen würden. In diesem Punkt verhalten sie sich ähnlich wie DesignerInnen und KünstlerInnen, die sich ihr Startkapital ebenfalls in erster Linie durch Quersubventionierung verschaffen. Der Schritt vom selbstständigen Dienstleister zum Unternehmer ist oft eher grösser als der vom IT-Mitarbeiter zum Solo-Selbstständigen. Gute Qualifikation und Kreativität oder auch bereits vorliegende patentierte Erfindungen müssen erst in ein tragfähiges Geschäftsmodell gegossen werden. Solo-Selbstständigkeit erweist sich dabei gerade nicht als natürliche Startrampe für Unternehmensgründungen, sondern – ganz im Gegenteil – als die solide Alternative. Der Übertritt von einer abhängigen Beschäftigung in die Selbstständigkeit lässt sich auf unterschiedliche Weise bewerkstelligen. Nicht unproblematisch ist die scheinbar naheliegende Variante, sich vorerst eine Teilzeitanstellung zu erhalten. Gerade grosse und damit auch inhaltlich wie finanziell interessante Aufträge lassen sich aber kaum nebenher erledigen. Schon eher macht es Sinn, beim alten Arbeit­geber als Selbstständiger gleichsam als «Intra­preneur» anspruchsvolle Aufträge zu übernehmen und dann die Kundenbasis allmählich zu diversifizieren. Nicht unbedingt falsch ist es, den Beginn der Selbstständigkeit auf die Konjunktur- und Auftragslage abzustimmen. Doch kann das Schiff den Hafen auch bei Konjunktur-ebbe verlassen, weil Solo-Selbstständige ohne Ballast unterwegs sind und kostengünstig oft massgeschneiderte Lösungen bieten können. Regelmässig Sorge bereitet auch sehr gut qualifizierten Solo-Selbstständigen immer wieder die Frage, ob es ihnen gelingen wird, über Jahrzehnte im Geschäft zu bleiben und die raschen Produktzyklen und den Technikwandel in der IT-Branche erfolgreich zu bewältigen. Als erfolgskritisch erweist sich hier eine überdurchschnittliche Lern- und Bildungsfähigkeit. Sie macht es Selbstständigen immer wieder möglich, sich in neue Themen einzuarbeiten und neue Marktnischen zu erschliessen. Lebenslanges Lernen ist hier Pflicht. Eine weitere, oft von Selbstständigen genannte Herausforderung betrifft den Umgang mit Kunden. Soziale Kompetenz, Kommunikations- und Selbstvermittlungsfähigkeit müssen eine gute – besser noch: überdurchschnittliche – fachliche Qualifikation ergänzen. Unerlässlich ist auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Kontaktpflege. Empfehlen und empfohlen werden ist für die Kundenakquise essenziell. Persön­liche Empfehlungen erweisen sich für Solo-Selbstständige zudem als die mit Abstand wichtigste Quelle neuer Aufträge.   Fazit: Solo erfolgreich Solo-Selbstständigkeit in der IT-Branche erweist sich als die mit Abstand erfolgreichste Spielart der neuen Selbstständigkeit. Sie situiert sich zwischen Anstellungsverhältnis und Unternehmertum. Auch verbaut sie den Weg zurück in ein Anstellungsverhältnis nicht vollständig, sollte die erstrebte Freiheit nicht das halten, was man sich von ihr versprochen hat. Buchtipp Freischaffen & Freelancen Die Beiträge in diesem Band werfen Schlaglichter auf das Freischaffen und Freelancing als Ausdruck aktueller Trans­formationen der Arbeitsgesellschaft. Freischaffende wie Experten aus Praxis und Wissen­schaft schildern ihre Erfahrungen und die mit der «Neuen Selbstständigkeit» verbundenen Chancen und Risiken. Die Autorinnen und Autoren wenden sich an alle, die sich für das Freischaffen interessieren oder bereits als Selbstständige tätig sind. Nicht zuletzt sprechen sie all jene an, die sich Gedanken darüber machen, wie das Verhältnis zwischen Leben und Arbeiten in unserer Wissens- und Kreativgesellschaft neu zu bestimmen und zu organisieren ist. Brigitte Liebig, Pietro Morandi (Hrsg.), Freischaffen und Freelancen in der Schweiz, Handbuch für Medien, IT und Kunst/Kultur, 2010, 192 Seiten, Fr. 52.–, vdf Hochschulverlag, ISBN 978-3-7281-3291-8



Das könnte Sie auch interessieren