10.10.2008, 16:11 Uhr

Evolution der Netze

Mit Next Generation Networks (NGN) wachsen IT und Telekommunikation zusammen. Durchgängig IP-basierte Infrastrukturen versprechen Unternehmen neue und günstigere Dienste, stellen sie aber auch vor Herausforderungen.
Die Ära der traditionellen Telefonnetzwerke (Public Switched Telephone Network) neigt sich dem Ende zu. Das Gros der Betreiber steckt heute mitten im Umbau seiner klassischen Infrastrukturen zu All-over-IP-Netzen, den sogenannten Next Generation Networks (NGN). Bereits in zwei bis fünf Jahren dürfte dieser Wandel bei den meisten west- und mitteleuropäischen Anbietern vollzogen sein, prognostiziert das Marktforschungshaus IDC.
Das erklärte Ziel von NGN ist die totale Konvergenz. Das heisst, die Bereitstellung sämtlicher Sprach-, Daten- und Videoservices wird künftig nicht mehr über unabhängige Kanäle und Netze, sondern paketorientiert über eine einheitliche IP-Plattform abgewickelt. Die längerfristige Vision: Jeder Service soll auf jedem beliebigen Endgerät nutzbar sein. Damit gewinnen auch die ursprünglich stationär angelegten IT-Lösungen sehr an Mobilität. IDC nennt diesen Wandel revolutionär. «Im Kern dieser Migration können IT- und Telekommunikations-Welten endlich wirklich zusammenwachsen», resümieren die Marktforscher in ihrer im vergangenen Jahr erschienenen Studie «NGN - Prepare for the Gradual Revolution».

Kostendruck als Motivation

Haupttreiber für die Entwicklung der nächsten Netzwerkgeneration ist die Heterogenität der bestehenden Infrastrukturen. Einzelne Kommunikationsdienste werden heute als separate Technologie-Silos geführt. Eine gemeinsame Integrationsplattform fehlt, neue konvergente Services sind so nur beschränkt möglich. Sie lassen sich lediglich über teure und zeitintensive Hardware-Anpassungen und Netzerweiterungen realisieren. Aber auch der verschärfte Konkurrenzkampf unter den Anbietern, der Preisverfall bei den Sprachdiensten und der daraus resultierende Kostendruck motiviert Firmen, es doch einmal mit einem günstigeren NGN zu versuchen.
Netzbetreiber und Dienstanbieter sind heute gezwungen, nach Einsparpotenzialen zu suchen und ihre Geschäftsmodelle von Grund auf zu überdenken. Mit dem Umbau zu einem einheitlichen, IP-basierten Netzwerk können sie die Komplexität ihrer gesamten Infrastruktur und die Anzahl der Netzkomponenten markant reduzieren. Das senkt die Betriebskosten und vereinfacht Wartungsarbeiten. Ausserdem macht es die neue Technik den Dienstleistungsanbietern leichter, sich Endkunden-orientiert aufzustellen. In einem immer härter umkämpften Markt ist das ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.

Günstigere und flexiblere Dienste

Kunden profitieren mehrfach vom Netzumbau: Durch die fortschreitende Bündelung der Kommunikations-Services können sie mittelfristig mit fallenden Preisen rechnen. Mit dem Siegeszug der konvergenten NGNs werden auch differenziertere Dienstleistungen möglich, die stärker als bisher auf Kundenwünsche eingehen. Denn ein wesentliches Merkmal von NGN besteht darin, dass verschiedene Netzfunktionen wie Transport, Dienste und Kontrollen auf unterschiedlichen logischen Netzebenen angesiedelt sind. Dies erlaubt es Providern und Service-Anbietern, Dienste wie Unified Communications, intelligente VoIP-Anwendungen oder Multiplay schneller, flexibler und günstiger zu entwickeln und zu betreiben als mit den alten Netzen.
Unternehmen können damit nicht nur beim TCO (Total Cost of Ownership) sparen, sie profitieren vor allem von den neuen Funktionen der IP-basierten Technologien. Dazu gehört beispielsweise, dass Mitarbeiter immer unter derselben Rufnummer erreichbar sind, egal wo sie sich aufhalten. Mobile Mitarbeiter haben dank IP-Technologie auch von unterwegs Zugriff auf Anrufe, E-Mails und Firmennetz. Die Kunden erreichen ihren Ansprechpartner schnell und problemlos. Auch die interne Kommunikation lässt sich erheblich vereinfachen: Die Präsenzinformation, ein Bestandteil von Unified Communications, zeigt an, ob und über welches Endgerät ein Kontakt gerade erreichbar ist. Dadurch geht keine Zeit für unnötige Kontaktversuche verloren.
Profitieren werden die Firmen in Zukunft aber auch von erheblich kürzeren Lieferzeiten. Benötigen die Netzbetreiber heute oft noch mehrere Wochen, um Dienste oder Kommunikationsanwendungen bereitzustellen, so wird diese Zeitspanne dank der automatischen Verwaltung in einem NGN bald auf wenige Tage schrumpfen.

Herausforderung für CIOs

Die Transformation der Netze stellt Unternehmenskunden aber auch vor eine Reihe von
Herausforderungen. Die grössten sind organisatorischer Natur: In den meisten Betrieben werden IT- und Kommunikationsumgebung heute nach wie vor separat aufgebaut und gepflegt; die einzelnen Bereiche operieren quasi als Kompetenzinseln. In der NGN-Welt der Zukunft funktioniert dieser Ansatz nicht mehr. Schliesslich können die einzelnen Anwendungen Vorteile wie Kosteneinsparungen, höhere Flexibilität und optimierte Geschäftsprozesse nur in Kombination ausspielen.
Wer NGN-Anwendungen erfolgreich einführen will, muss sich also von althergebrachten Mustern verabschieden. Der Anstoss dafür muss aus der Führungsebene kommen, darin sind sich Experten einig. Das bedeutet aber auch, dass die neuen konvergenten Systemumgebungen einen entscheidenden Einfluss auf die Rolle des CIO haben werden. So muss er nicht nur die Verschmelzung der Fachbereiche vorantreiben, sondern neben der Verantwortung für die IT auch jene für die Kommunikationsdienste im Unternehmen übernehmen.

Paradigmenwechsel vorbereiten

NGN werden sämtliche Geschäftsprozesse in Unternehmen auf den Kopf stellen: «Billing, CRM, ERP - praktisch alle Prozesse werden sich durch die neue Kommunikationsinfrastruktur verändern», prognostiziert Dan Bieler, NGN-
Experte und Analyst bei IDC. Deshalb, so der Ratschlag des Experten, sollten es Unternehmen nicht versäumen, sich rechtzeitig und eingehend mit dem Thema auseinanderzusetzen und sich auf den Paradigmenwechsel in Sachen Netze vorbereiten. Das heisst unter anderem auch, das Netzwerk-Equipment fit für den reinen IP-Verkehr zu machen, so Bieler. Denn die NGN-Zukunft hat bereits begonnen. Glaubt man den Marktforschern von IDC, wird die Mehrheit der Netzbetreiber bis zum Ende des Jahrzehnts keine klassischen Zeitmultiplex-Dienste (Time Division Multiplexing) mehr anbieten.
Zum Autor: Luzius von Salis istDirector Marketing & Business Services beo Colt Telecom Schweiz



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