Digitale Innovation und Experimente trotz Corona 11.01.2021, 06:50 Uhr

Jetzt erst recht!

Corona ist der Stresstest für die Wirtschaft. Doch aufgepasst! Wer jetzt bloss kurzfristig Umsatz bolzt, wird als Verlierer aus der Krise hervorgehen. Weshalb Unternehmen nun Innovationsprojekte vorantreiben und auch mal ein Experiment wagen sollten.
Aus kleinen Projekten kann Grosses entstehen. Unternehmen, die jetzt investieren und auch Neues ausprobieren, werden gestärkt aus der Krise hervorgehen
(Quelle: Michael Haderer/Pixabay)
Die Finanzkrise 2008 zeigte, dass Unternehmen, die ihre Innovationsausgaben während der Krise nicht reduzierten oder sogar noch erhöhten, besser aus dem Tief herauskamen. Auch in der Corona-Krise stellt sich nun die Frage, welche Firmen als Sieger und welche als Verlierer aus der Krise hervorgehen werden. Denn viele Unternehmen machen gerade genau das Gegenteil: Sie fokussieren auf Bereiche, die kurzfristig die Umsätze sichern, und schieben Projekte, die langfristig Erfolg versprechen, auf die lange Bank. Mit Corona besteht zudem die Gefahr, dass Unternehmen digitale Innovationsprojekte vernachlässigen. Zum Beispiel die Ausarbeitung neuer Geschäfts­modelle oder Projekte rund um die Themengebiete Cognitive Computing, künstliche Intelligenz, Augmented und Virtual Reality, Blockchain und 5G.
Ist das nicht gefährlich? Und was können Firmen tun, damit das nicht passiert? Computerworld hat sich umgehört und bei Schweizer Firmen und Experten nachgefragt.

Mit Innovationsprojekten aus der Krise

«In einer Krise sind oft alle Augen auf die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit und die kurzfristigen Initiativen gerichtet», sagt Christian Russ, der an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) als Dozent und Studiengangsleiter tätig ist. Unternehmen würden dann meist auf Kostensparprogramme fokussieren, erklärt der Verantwortliche für die Studiengänge MAS Wirtschaftsinformatik und MAS IT-Leadership & Tech-Management. Das sei zwar grundsätzlich nichts Schlechtes, solange man nicht an der falschen Ecke spare. Dem Management müsse aber bewusst sein, dass es auch Innovationsprojekte gebe, die kurzfristig Erfolg versprechen. Diese sollte man den Entscheidern in den Unternehmen schmackhaft machen, betont Russ. Um das zu erreichen, müsse der direkte Einfluss eines Vor­habens auf die Top-Line des Geschäfts veranschaulicht und zum Beispiel ein Prototyp präsentiert werden.
Die Mehrheit der Innovationsprojekte wirken sich gemäss Russ aber erst über längere Zeit positiv auf ein Unternehmen aus. Das könne dem Quartals- und Jahresbonusdenken etwas entgegenwirken. Um als Unternehmen gestärkt aus dieser stürmischen Zeit hervorzugehen, brauche es Mut, digitale Führungsqualitäten, eine klare Vision und die Fähigkeit, Projekte technisch auch umsetzen zu können, resümiert der ZHAW-Dozent.
Allerdings ist nicht jeder neue Technologietrend für jedes Unternehmen gleich wichtig. Oft sei es auch viel­versprechend, das intelligente Stammdatenmanagement oder die integrative Vertriebsautomatisierung voranzutreiben. Grundsätzlich sei aber jede Krise auch eine Chance. Selbst wenn ein Unternehmen nicht sehr finanzstark sei, könne es Digitalisierungsprojekte mit Marktpotenzial und einem neuartigen Charakter punktuell und gezielt angehen. Dabei sei es wichtig, die kritischen Bedürfnisse der Kunden zu verstehen und für diese schnell einen echten Nutzen zu schaffen. In einer Krise sei dieses Vorgehen sinnvoller, als grosse und endlose Megaprojekte zu starten.

Ein KI-Experiment in unsicheren Zeiten

Ein Beispiel für ein Unternehmen, das trotz Corona auf ein Innovationsprojekt setzt, ist die Küchenbauerin Veriset aus Root. Sie ist auf die Produktion und den Verkauf von Einbauküchen, Schränken, Garderoben und Waschraummöbeln spezialisiert. Veriset realisiere gerade ein sehr grosses Projekt in der Produktion, sagt Rafael Duss, Leiter Entwicklung und ICT. Dabei experimentiere man in der neuen Fertigungsleit-Software auch mit einer künstlichen Intelligenz.
Corona habe dieses Vorhaben nicht negativ beeinflusst. «Wir haben bereits vor der Pandemie viele Ressourcen in Innovationsprojekte in­vestiert und das während der Krise beibehalten», sagt Duss. Auch andere Projekte im Unternehmen tangiere das Virus nicht. Das Projektgeschäft sei vom Geschäftsgang abhängig, und die Baubranche vom Covid-19-Virus noch nicht so stark betroffen.
Trotzdem habe Veriset mehrere Szenarien erstellt, um bei einem allfälligen Einbruch des Geschäftsgangs oder bei einer Schliessung von Baustellen gewappnet zu sein. Das Projektmanagement habe sich wegen Corona aber nicht verändert. Die Prozesse seien immer noch die gleichen. Das Virus habe aber dazu geführt, dass sich digitale Tools wie Microsoft Teams schnell bis in die Chef-Etage etablierten.
“Wir haben auch während der Krise in Innovationen investiert„
Rafael Duss, Veriset

Rezepte gegen die Krise: TeamBuilding und die richtigen Kennzahlen

Auch beim Beratungshaus sieber&partners warnt man davor, wichtige Innovationsprojekte zu vernachlässigen. Wer klug handle, könne auch an anderen Orten Ressourcen einsparen. Zum Beispiel mit Teambuilding, schlägt CEO Luigi Caracciolo vor. Oft würden in Projekten nämlich Personen zusammenarbeiten, die sich noch nicht gut kennen. «20 Prozent der Projektzeit sollte dafür eingesetzt werden, das gegenseitige Verständnis für die Vision, die Ziele, die Arbeitsteilung und die Zusammenarbeit zu fördern.» Das spare gerade in komplexen Projekten bis zu 80 Prozent des Aufwands. Alle sollten gezielt das Richtige anstatt fleissig das Falsche machen, erklärt Caracciolo. «Eine klare Vision und eine langfristige Planung der digitalen Transformation helfen, Mitarbeiter, Partner und allfällige Kreditgeber von digitalen Innovationsprojekten zu überzeugen», ergänzt Verwaltungsratspräsident Pascal Sieber. Man müsse zudem die richtigen Kennzahlen und Steuergrössen verwenden.
In zu vielen Projekten würde bloss auf den ROI geschaut. Dabei seien gerade bei kurzfristigen Vorhaben die Time to Fail, der Nutzungsgrad oder die Anzahl der teilnehmenden Anwender relevanter als beispielsweise der kurzfristige Umsatz oder der Gewinn. Oft gehe es auch darum, etwas zu lernen, Netzeffekte zu provozieren oder eine neue Zielgrup-pe zu erschliessen. «Es ist äusserst wichtig, dass alle von­ei­nander wissen, welche Ziele verfolgt werden, um die Investi­tionen und den Aufwand darauf auszurichten und dann während des Projekts den Fokus nicht zu verlieren», sagt Sieber.

Ein gutes Projektmanagement ist krisenresistent

Müssen Firmen ihr Projektmanagement wegen Corona nun neu ausrichten? Nein, antwortet Silvio Zingg, Leiter E-Business bei der Migros-Tochter Ex Libris auf diese Frage. Die Digitalisierung sei ein fortschreitender Prozess und Corona habe die Projekte im Unternehmen weder beschleunigt noch verlangsamt. Man setze schon lange digitale Projekte um, die ein bruchloses Einkaufserlebnis über mehrere digitale Kanäle und analoge Touchpoints ermöglichten. Die Digitalisierung des Geschäftsmodells erweise sich heute als der Erfolgsfaktor schlechthin bei Ex Libris.
“Es ist äusserst wichtig, dass alle voneinander wissen, welche Ziele verfolgt werden„
Pascal Sieber, sieber&partners
Der Industriekonzern Siemens gibt ebenfalls an, dass alle internen Projekte in der Schweiz trotz Corona weiter­gelaufen seien. Das Geschäft von Siemens habe auch nicht gelitten, teilt Michael Sturzenegger mit, IT Head Siemens Schweiz. Es sei sogar möglich gewesen, Projekte wie den Ausbau des neuen Hochleistungs-Wi-Fi sowie die Umstellung auf Software-defined WAN noch zu beschleunigen. Wegen Corona würden nun aber alle Projektmeetings und Workshops virtuell stattfinden. Losgelöst davon habe man entschieden, dass künftig alle Mitarbeitenden wenn möglich zwei bis drei Tage remote arbeiten können. Das erfordere ein Umdenken und eine gewisse Flexibilität. Eine Transition, die derzeit bei vielen Unternehmen voranschreitet.
Je digitaler also ein Unternehmen, desto besser meistert es Corona? «Grundsätzlich ja», antwortet Russ auf diese Frage. Ein hoher Digitalisierungsgrad helfe aktuell gerade bei der Automatisierung bestehender Geschäftsprozesse und interner Abläufe. Speziell in einem Lockdown, in dem es vielen Unternehmen gelinge, das Tagesgeschäft mit Home Office und verteilten Applikationen aufrechtzuerhalten. Die digitale Optimierung der eigenen Geschäfts­prozesse sei zwar nichts Neues, gibt Russ zu bedenken. Die Dringlichkeit der Projekte habe sich aber nun erhöht.

Mehr Agilität und Experimente – jetzt oder nie!

«Die Trends der letzten Monate haben unsere strategische Stossrichtung bestätigt», sagt Julian Däster, Head of eCommerce Operations von Manor. Das Warenhaus investiert aktuell in einen Marktplatz, seinen Onlineshop und neue Omnichannel-Services. Jetzt sei es besonders wichtig, mit Agilität auf die dynamischen Umstände reagieren zu können. «Aber als klassischer Retailer hinken wir bezüglich Digitalisierung historisch natürlich etwas hinterher», sagt Däster. Im September habe man kurzfristig eine Verfügbarkeitsanzeige auf manor.ch umgesetzt.
Im Eiltempo sei auch ein Pilot lanciert worden, der es Kunden ermögliche, Produkte in einer Filiale über die Website zu reservieren und innerhalb weniger Stunden abzu­holen. Der Fokus liege aktuell auf einer Omnichannel-Zielarchitektur, auf der man Innovationsprojekte aufbauen könne. «Es ist aber klar, dass wir aufgrund des Lockdowns stark auf die Kosten schauen und uns noch stärker fokussieren müssen», sagt Däster. Um die verschiedenen Initiativen besser priorisieren zu können, habe Manor ein neues Projektportfolio-Management ins Leben gerufen. Microsoft Teams helfe, die Kommunikation effizienter und transparenter zu machen. In der Digitalabteilung laufe zudem ein Pilotprojekt, das sich um die Management-Methode «Objectives and Key Results» drehe. Das Projekt soll die agile Planung auch ausserhalb der Softwareentwicklung vorantreiben, erklärt Däster.
Agilität sei in dieser Krise eindeutig ein Erfolgsfaktor, sagt Norman Briner, Transformation Consultant bei sieber&partners. Wer schnell auf die veränderte Nachfrage reagieren könne, profitiere oder könne zumindest den Schaden abfedern. Die Krise sei eine grosse Chance, weil Kunden und Partner aktuell mehr Verständnis für Fehler aufbringen würden, die mit neuen Prozessen und Geschäftsmodellen oft einhergehen. Es sei nun fast der ideale Zeitpunkt, um zu experimentieren. «Unternehmen sollten diese Chance nun wahrnehmen», sagt Briner.

Die Nähe zum Kunden ist Matchentscheidend

In einer Krise gehe es immer darum, die Kunden besser zu verstehen und ihre Anforderungen schneller umzusetzen, bilanziert Russ. Projekte dieser Art seien allerdings komplex. Um Märkte und Umsatzpotenziale zu erschliessen, brauche es neue digitale Dienstleistungen, Produkte und Geschäftsmodelle. Dafür sei ein digitales Mindset, eine flexible technische Architektur und eine hohe Lösungs­kompetenz nötig. «Daran mangelt es noch bei einigen Unternehmen – mit oder ohne Corona», unterstreicht Russ.
“Um sein Unternehmen gestärkt aus dieser stürmischen Zeit herauszuführen, braucht man digitale Führungsqualitäten„
Chris Russ, ZHAW
Unternehmen sollten diese komplexen Projekte aber trotz Krise und Kostensparprogrammen nicht vernachlässigen: «Nur wer jetzt die Zeit nutzt, um den Digitalisierungsschub auch auf der Kundenseite voranzutreiben und dafür eine ganzheitliche Data-Management-Strategie aufsetzt, wird sich langfristig durchsetzen.» Gerade finanzkräftige Unternehmen sollten nun Sondermittel für solche Projekte freigeben und gezielt das Angebot für die Kunden ausbauen. Dafür brauche es freie Ressourcen und finanziellen Spielraum in der IT. Um diese zu erreichen, sei etwa die Reduktion oder Auslagerung gewisser IT-Commodity-Dienste denkbar, empfiehlt Russ abschliessend.

Fazit

Für Unternehmen gilt also: Never waste a good crisis! Wer jetzt in digitale Projekte investiert, wird gestärkt aus der Krise kommen und Marktanteile gewinnen. Die Zeit ist reif für Innovationen und Experimente. Den Mutigen gehört die Welt – jetzt erst recht!

Interview mit Oliver Vaterlaus, CEO von AWK

«Corona fordert Unternehmen auf, ihr Verhalten zu überdenken und Neues zu wagen»

Die Corona-Pandemie hat viele Unternehmen hart getroffen. Um kurzfristig den Umsatz zu sichern, schieben viele ihre  Innovationsprojekte auf die lange Bank. Das sei gefährlich, sagt Oliver Vaterlaus, CEO des Management- und IT-Beratungsunternehmens AWK.
Oliver Vaterlaus, CEO von AWK
Quelle: AWK
Computerworld: Je digitaler ein Unternehmen, desto besser wird es diese Krise meistern. Einverstanden?
Oliver Vaterlaus: Corona ist eine disruptive Kraft, die aufzeigt, wie Digitalisierungsgrad und Wettbewerbsfähigkeit zusammenhängen. Während Amazon seine Marktmacht laufend ausbaut, stehen traditionelle Firmen mit einer geringen digitalen Maturität vor dem Aus. Frühzeitig auf digitale Geschäftsmodelle zu setzen, hat sich als sinnvolle Strategie in der Corona-Krise erwiesen. Sie fordert Unternehmen geradezu auf, klassische Verhaltensmuster zu überdenken und Neues zu wagen.
CW: Hilft mehr Agilität dabei, besser durch die Krise zu kommen?
Vaterlaus: Mit Covid-19 wurde Agilität zum Gebot der Stunde. Um auch während der Krise erfolgreich zu sein, sollten alle Möglichkeiten der flexiblen Zusammenarbeit genutzt werden. Organisationen sind durch agile Praktiken widerstandsfähiger gegen die Pandemie geworden. Denn agile Organisationen sind darauf ausgelegt, schnelle Entscheide zu treffen und sich an sie anzupassen.
CW: Muss man wegen Corona das Projektmanagement neu ausrichten?
Vaterlaus: Organisationen, die Erfahrungen mit Agilität bei der Abwicklung ihrer Vorhaben gesammelt haben, sollten sich jetzt entscheiden, ob sie diese auf das gesamte Unternehmen skalieren wollen. Wem diese Erfahrung fehlt, raten wir, dies rasch nachzuholen. Es gilt, über das während der Krise Gelernte nachzudenken und sich zu überlegen, welche Praktiken beibehalten werden sollen. Diese müssen in der Kultur und in den Prozessen verankert werden. Wer einen vollständigen agilen Wandel vollziehen will, muss hierzu sowohl für das Management als auch für die Mitarbeitenden Zeit für einen angemessenen Change-Management-Prozess einplanen. Gelingt der Wandel erfolgreich, resultieren daraus nicht nur entscheidende Wettbewerbsvorteile, sondern auch eine höhere Resilienz gegenüber zukünftigen Krisensituationen.
CW: Wie sollen Unternehmen ihre Projekte während Corona priorisieren?
Vaterlaus: Es ist entscheidend, den Fortschritt aller Vorhaben regelmässig zu validieren. Mittels iterativem Vorgehen und der Erstellung von Minimum Valuable Products sind die Vorhaben angehalten, sich auf die Maximierung der Wertschöpfung zu konzentrieren. Ob ein Projekt weitergeführt, gestoppt oder modifiziert wird, kann so evidenzbasiert entschieden werden, was wiederum den entsprechenden Investitionsschutz sichert.
CW: Viele Unternehmen müssen nun kurzfristig den Umsatz sichern und verschieben Innovationsprojekte. Laufen sie so nicht Gefahr, den Anschluss zu verlieren?
: Die Corona-Pandemie verstärkt langfristige digitale Trends und hat Unternehmen gezwungen, neue Technologien in radikalen Schritten zu implementieren. Es ist aber nicht empfehlenswert, den Fokus dabei nur auf Bereiche zu setzen, die kurzfristige Umsätze bringen. Wer weiter «Business as usual» betreibt, riskiert, dass sein Geschäftsmodell eher früher als später obsolet wird. Selbst erfolgreiche Unternehmen müssen sich auf Ungewissheiten einstellen und kalkulierte Risiken eingehen. Die gezielte Förderung von Innovation und eine hohe Zielstrebigkeit bei der Umsetzung digitaler Vor­haben sind entscheidend, um nicht an Relevanz zu verlieren.



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