Die Gretchenfrage
26.03.2012, 08:00 Uhr
App oder mobile Webseite?
Apps erleben derzeit einen riesigen Boom. Allerdings steigt der Aufwand für Anbieter, alle Plattformen zu bedienen. Steht das Geschäftsmodell schon vor dem Ende und wird durch mobile Webseiten ersetzt?
Es hat Apple gerade einmal dreieinhalb Jahre Zeit gekostet, um mit ihrem App Store die magische Grenze von 18 Milliarden Downloads zu knacken. Die Entwickler dieser Apps erhalten 70 Prozent vom Verkaufserlös und haben damit laut Apple seit Bestehen der Verkaufsplattform insgesamt über 3 Milliarden US-Dollar verdient – auf den ersten Blick ein riesiges Geschäft.
Auf den zweiten Blick relativiert sich dieser Eindruck jedoch. Apples Online Store iTunes setzte im abgelaufenen Quartal rund 2 Milliarden Dollar um – Apps-, Musik- und Video-Verkäufe zusammengerechnet. Das sind gerade einmal 4,4 Prozent vom Gesamtumsatz. Ähnlich sieht es bei Google aus: Der rund ein halbes Jahr später gestartete «Android Market» bietet mit einer halben Million Apps heute zwar ein vergleichbar grosses Sortiment an Apps wie der Apfel-Laden, verzeichnete aber mit total 10 Milliarden Downloads nur gut die Hälfte der Nachfrage. Der Umsatz dürfte damit noch wesentlich tiefer ausfallen: Während im Apple-Store ein Drittel der Apps kostenlos angeboten wird, sind es im Android Market über 60 Prozent.
Für viele Anbieter – vor allem im Business-Bereich – steht auch gar nicht der Verkauf von Apps im Vordergrund. Sie sehen diese eher als zusätzlichen, für die mobile Welt unverzichtbaren Weg, ihre Business-Software, -Services und -Inhalte an den Kunden zu bringen. Diese Anbieter sind vor allem daran interessiert, ihre Apps möglichst kostengünstig zu entwickeln – und den Store-Betreibern so wenig wie möglich vom Kuchen abzugeben.
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Günstigere Apps entwickeln
Mit «Windows Phone» ist seit anderthalb Jahren ein weiteres Smartphone-Betriebssystem auf dem Markt, das mit Apps gefüttert werden will. Viele Anbieter fokussierten sich bislang nur auf Android und Apple. Verständlich, es sind die Plattformen mit dem grössten Marktanteil. Je nachdem wie sich die Verkaufszahlen von Microsoft-Smartphones entwickeln, müssen die Anbieter ihre Apps nun auch noch für Windows Phone programmieren lassen, um ja keine Anwender von den eigenen Inhalten auszuschliessen. Ein teures Unterfangen: Laut Experten muss für den Transfer einer App von einem Betriebssystem zum nächsten über die Hälfte des Programmieraufwands wiederholt werden.
Es gibt jedoch eine Alternative: mobile Webseiten. Michael Näf, Gründer und CEO des in der Schweiz beheimateten Terminfindungsdiensts Doodle, erklärt, wo deren Pluspunkte liegen: «Die mobile Webseite ist plattformübergreifend und läuft auf allen Smartphones gleichermassen.» Doodle bietet seinen Service sowohl über eine herkömmliche App als auch über eine mobile Webseite an. Letztere sei jedoch funktional am weitesten und habe für die Nutzer den Vorteil, «nichts herunterzuladen oder installieren zu müssen», erklärt Näf. Diese scheinen das zu schätzen: Die Zugriffe auf Doodle über ein mobiles Gerät haben sich in den letzten 24 Monaten jährlich verdreifacht. «Dabei verzeichnen wir die meisten Besucher auf der mobilen Webseite», so Näf.
Keine Umsatzbeteiligung für Apple & Co.
Doch nicht nur die günstigere Entwicklung birgt Sparpotenzial. Allein durch die Nutzung der jeweiligen Download-Plattformen fallen für die Anbieter bereits Kosten an. Apple und Google verlangen nicht nur von jeder verkauften App 30 Prozent Umsatzbeteiligung, sondern auch einen Anteil an dem indirekt über die App gemachten Geschäft, den sogenannten In-App-Verkäufen. An jeder via App an den Mann gebrachten Dienstleistung partizipieren die Grosskonzerne ebenfalls zu je einem Drittel – auch wenn die App als solche gar nichts kostet.
Wer seine Dienste jedoch stattdessen über eine mobile Webseite anbietet, spart sich beide Abgaben. Der erste Grosskonzern, der diesen Weg geht, ist Amazon. Über den «Kindle Cloud Reader» (https://read.amazon.com) bietet der Onlinehändler die Möglichkeit, Bücher direkt im Browser zu kaufen und zu lesen. Unterstützt werden Chrome, Firefox und Safari. Zwar muss Amazon dann die Infrastruktur selbst stellen, aber dafür die Umsätze nicht mit Apple oder Google teilen. Ab welchem Umsatzvolumen sich dieses Geschäftsmodell für Amazon rechnet, wollte der Konzern auf Anfrage leider nicht verraten.
Michael Näf von Doodle warnt allerdings, dass dieses Vertriebsmodell nicht nur Vorteile mit sich bringt. Die mobile Webseite muss erst einmal in den Weiten des Web gefunden werden. «Entweder muss der Name der mobilen Webseite in den Köpfen der Nutzer präsent sein oder der Service basiert auf verschickten Links, wie das bei Doodle der Fall ist», führt der CEO aus. Präsenz und Vertrieb über eine der grossen Download-Plattformen sei dann nicht so wichtig, sagt Näf. Klar ist: Wer seine mobile Webseite nicht durch eine Top-Platzierung im App-Store promoten kann, muss über ein grosses Marketingbudget verfügen, um dieselben Nutzerzahlen zu erreichen.
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Vereinfachte App-Updates
Weil sich Webdienste ständig weiterentwickeln, sind deren Anbieter gezwungen, regelmässig Updates auszuliefern. Die Problematik dabei: Wie bei neuen Apps müssen auch Aktualisierungen bei jeder Plattform separat eingepflegt werden – ein immenser Aufwand. Auch deshalb konzentriert sich Doodle auf seine mobile Webseite. «Für uns ist ein einfacher Update-Prozess essenziell», erklärt CEO Michael Näf. Er will «mit tragbarem Aufwand eine möglichst umfassende Dienstleistung auf Smartphones bereitstellen». Allerdings ist auch bei mobilen Webseiten nicht alles Gold, was glänzt. Dessen ist sich auch Näf bewusst: «Doodle funktioniert als Web-App so gut, weil man den Dienst immer online, aber nicht mehrmals täglich benutzt.» Bei anderen Applikationen, wie zum Beispiel E-Mail-Programmen, sei vermutlich eine klassische App weiterhin die richtige Wahl. Auch bei Spielen wird sich die mobile Webseite kaum durchsetzen. Eine ständige Internetverbindung ist dafür alles andere als optimal.
Technische Hindernisse überwinden
Wer aufgrund dieser Nachteile weiterhin auf die klassische Vertriebsvariante via Download-Plattformen setzen will, kann immerhin den Update-Prozess vereinfachen. Abhilfe schafft zum Beispiel die Software «LaunchBase» des Schweizer Anbieters TerriaMobile. Der auf der Open-Source-Software PhoneGap basierende Dienst erlaubt es Unternehmen, Apps für die Plattformen von Apple, BlackBerry, Google und Windows Phone bereitzustellen. Die erstmalige Platzierung in den App-Stores entfällt dadurch zwar nicht, Updates sind so aber an den Stores vorbei und über alle Plattformen gleichzeitig möglich. Es genügt, ein Update zu erfassen und dieses von zentraler Stelle an alle Geräte – egal ob Android, BlackBerry, iPhone oder Windows Phone – auszuliefern. Zudem lässt sich definieren, ob Anwender das Update installieren müssen oder ob es freiwillig bleiben soll. Auch soll LaunchBase weitaus detailliertere Statistiken liefern als die Stores von Apple & Co. So wissen die Unternehmen nicht nur, wie viele Nutzer die App heruntergeladen haben, sondern auch, auf welchen Gerätetypen diese installiert sind und wie häufig die App tatsächlich genutzt wird. Die Apps lassen sich mit der Software entweder bei allen Geräten auf einmal oder auf einzelne Nutzer beschränkt auch wieder löschen. Damit behält das Unternehmen quasi die volle Kontrolle.
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Web-apps nicht mehr zu stoppen
«Wir sind überzeugt, dass der Weg generell zu mobilen Webseiten führt. Deshalb haben wir auch unseren Fokus entsprechend gelegt», sagt Michael Näf von Doodle. Nichtsdestotrotz bleibt ein grosses Problem ungelöst: Die Browser auf den Smartphones unterstützen weit weniger Funktionen als die Apps. «Auslöser ist der Wettstreit zwischen Apple, BlackBerry, Google und Microsoft um ein Alleinstellungsmerkmal für ihre Mobilplattformen», erklärt Kevin Cavanaugh, Vice President Technical Strategy & Mobile bei IBM. Jedes neue Smartphone werde mit noch besseren Kameras, noch genaueren GPS-Empfängern und noch leistungsfähigeren NFC-Chips (Near Field Communication) ausgerüstet. Diese Hardware liefern ihre Daten und Funktionen aber nur an die klassischen Apps. Der mobile Browser beispielsweise werde entweder gar nicht oder nur rudimentär unterstützt.
Nur eine App kann also die Kamerafunktionen nutzen, bekommt Geodaten bereitgestellt oder unterstützt das mobile Bezahlen via NFC. Selbst einer ausgeklügelten HTML5-Anwendung im Telefonbrowser bleiben die Informationen und Funktionen vorenthalten. Laut Cavanaugh gebe es zwar eine Zwischenlösung, bei der eine schlanke App auf dem Mobilgerät die Daten aus der Kamera holen und diese an die Browseranwendung übergeben kann. «Für Markenunternehmen gehört es aber mittlerweile zum guten Ton, den Kunden eine richtige App zu offerieren.»
Fazit: Beides macht Sinn
Die Gretchenfrage «App oder mobile Webseite» lässt sich nicht grundsätzlich beantworten. Heutige Apps, die reine Webinhalte abbilden, werden eher kurz- als langfristig durch mobile Webseiten ersetzt. Dagegen bleiben Anwendungen, die auf Adressbuch, Kamera, GPS-Sensor etc. des Geräts zugreifen müssen, vorderhand den Download-Plattformen der Anbieter vorbehalten. Niemals daraus verschwinden werden wohl Spiele: Obwohl mit HTML5 technisch problemlos umzusetzen, verhindert die ständig notwendige Internetverbindung eine Lösung per mobiler Webseite.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Interview mit Christof Zogg von Microsoft Schweiz zum Thema:
Interview: App oder mobile Website?
Christof Zogg, Director Developer & Platform Group bei Microsoft Schweiz, erklärt im Interview mit Computerworld, wo die Nachteile von mobilen Webseiten aus Entwicklersicht liegen und wofür sich klassische Apps weiterhin besser eignen.
CW: Im Windows Market Place finden sich derzeit rund 60000 Apps. Ein Nachteil gegenüber Android und Apple, die ein zehnmal grösseres Angebot besitzen?
Christof Zogg:In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit ist das sicher noch ein kleines Manko. Es gilt allerdings zu bedenken, dass z.B. bei Apple jeweils die Trial-Versionen als eigene Apps mitzählen. Das relativiert das grosse Angebot. Zudem werden wir, wenn die Windows-Phone-Entwickler in der Schweiz und weltweit weiter so viel Gas geben, die magische Zahl von 100000 Apps bereits diesen Sommer überschreiten. Für den User aber viel entscheidender als die schiere Masse, ist die Verfügbarkeit von lokalen und internationalen Top-Apps, zum Beispiel SBB, Swiss, Angry Birds, Spotify oder WhatsApp. Und die gibt es ja praktisch alle schon für Windows Phone.
Nicht mitgezählt sind dort mobile Webseiten. Lösen diese die klassischen Apps aus den Stores langfristig ab?
Jein. Für bestimmte Arten von kostenlosen Anwendungen wie zum Beispiel News-Apps, die im Wesentlichen die Darstellung von Onlineinhalten sind, kann eine mobile Webseite sicher eine gute Lösung sein. Aber mit Frameworks, die HTML5-basierte Lösungen in eine «App-Hülle» verpacken und für die verschiedenen Smartphone-Plattformen zur Verfügung stellen, lässt sich mittlerweile mit wenig Aufwand eine benutzerfreundliche App realisieren. Der Übergang zwischen klassischen Apps und mobilen Webseiten wird dadurch fliessend.
Welche Nachteile haben auf HTML5-basierende mobile Webseiten gegenüber klassischen Apps für Entwickler?
Zurzeit gibt es sicher noch gewisse Limitierungen bei den Entwicklungswerkzeugen, die aber rasch beseitigt werden. Mit dem künftigen Release von Visual Studio wird beispielsweise die Kombination von HTML5, JavaScript und CSS eine der drei offiziellen Arten werden, Apps für Windows 8 zu entwickeln. Selbstverständlich bieten HTML5 und JavaScript nicht die gleiche Programmiereffizienz wie die objektorientierten Hochsprachen C# oder C++. Zudem fehlen teilweise noch die Schnittstellen und Bibliotheken, um telefonspezifische Hardware-Features wie die Kamera oder Sensoren wie GPS oder Accelerometer programmiertechnisch anzusprechen.
Anbieter müssen bei mobilen Webseiten Vertrieb und Marketing selbst übernehmen. Ein Grund, doch auf Apps zu setzen?
Absolut. Für kostenpflichtige Apps wie zum Beispiel Spiele führt kein Weg an den Download-Plattformen vorbei. Der Nutzen für die Promotion, Distribution und das Payment ist einfach zu gross.
Microsoft kann an klassischen Apps mitverdienen, weil diese im Market Place angeboten werden. Fördert der Konzern deshalb diese Variante?
Nein. Microsoft bietet ja neben der Download-Plattform für Apps auch Serverprodukte und Entwicklungswerkzeuge für mobile Webseiten an. Kunden und Partner sollen auch in Zukunft die technische Architektur und das Vertriebsmodell ganz den jeweiligen Anforderungen anpassen. Microsoft wird auch weiterhin klassische Apps wie mobile Webseiten gleichermassen unterstützen und fördern. Zudem hat im neuen Windows-8-Store der Anbieter die Möglichkeit, neben dem von Microsoft zur Verfügung gestellten Zahlungsmechanismus auch einen eigenen Service für In-App-Verkäufe zu verwenden und so den gesamten Umsatz für sich zu behalten.