Diversity in Tech
22.02.2021, 06:28 Uhr
Wie die Mobiliar Frauen für ihre IT gewinnt
Die heimische ICT-Branche tut sich schwer damit, weibliche IT-Fachkräfte zu gewinnen. Wie es geht, zeigt die Versicherung Mobiliar.
Die Schweiz gehört zu den Ländern mit den am besten ausgebildeten Frauen. Doch wo sind sie in der IT anzutreffen? Leider fast nirgendwo. Das Problem beginnt bereits bei der Ausbildung und setzt sich bis ins Berufsleben fort, wie das Positionspapier «Für die digitale Zukunft – Mehr Frauen in die Informatik!» des Dachverbands ICTswitzerland festhält.
Betrachtet man den Anteil der Frauen an Informatik-Lernenden und -Studierenden in der Schweiz nach Ausbildungstyp, so zeigt sich, dass der Anteil der Frauen seit 2001 fast nicht mehr angestiegen ist und immer zwischen 10 und 12 Prozent betrug. Im Jahr 2018 wurde zum ersten Mal ein Anteil von 13 Prozent erreicht. Frauen sind unter Informatikfachleuten in allen EU-Mitgliedstaaten untervertreten. Dies steht in einem starken Gegensatz zur Gesamtbeschäftigung, wo Männer und Frauen weitgehend zu gleichen Teilen vertreten sind, wie es in dem Positionspapier weiter heisst.
Gezielte Ansprache von IT-Fachfrauen
Das Phänomen des tiefen Frauenanteils in IT-Berufen und das Fehlen von weiblichen Vorbildern ist zwar nicht neu. Erstaunt zeigen sich die Autorinnen und Autoren des Berichts jedoch, dass sich dieser Anteil in den letzten Jahren nicht steigern liess und dies trotz zahlreicher Initiativen, Projekte und neu geschaffener Ausbildungsgänge.
Wie es gelingt, weibliche IT-Fachkräfte ins Unternehmen zu holen – und auch an sich zu binden –, zeigt das Beispiel der Mobiliar. Insgesamt entwickeln, bauen und pflegen fast 600 Mitarbeitende die IT-Landschaft der Versicherung. Fast 100 von ihnen sind Mitarbeiterinnen – Tendenz steigend. Hierfür initiierte man verschiedene Massnahmen. Dazu zählen seit letztem Jahr auch die gezielte Ansprache von Frauen in Jobinseraten. Zum Beispiel soll die Bildsprache die Diversität in der IT widerspiegeln. Wenn immer möglich werden Frauen und Männer gezeigt, im Zweifelsfall nur weibliche Personen. In Texten werden weiblich konnotierte Eigenschaften und Wörter genannt, etwa Soft Skills oder persönlichkeitserklärende Adjektive.
Auch wurden die Arbeitspensen an Teilzeitmodelle angepasst. So werden freie Stellen in einem Pensum von 40 bis 100 Prozent ausgeschrieben. Auf diese Weise können Vakanzen im Jobsharing besetzt werden. Das macht Jobs auch für jene interessant, die Familie und Karriere vereinen wollen. Für Mobiliars CIO Thomas Kühne sind vielfältig besetzte Teams ein zentraler Erfolgsfaktor in der heutigen agilen Welt. «Denken wir aus der Perspektive unserer Anwender – das sind schon lange nicht mehr nur männliche Ingenieure, sondern zu gleichen Teilen auch Anwenderinnen. Wollen wir also mit unseren Lösungen einer Vielzahl von Anwendenden gerecht werden, ist auch eine grosse Diversität unter den Entwickelnden nötig.»
Diversity soll Teil der Kultur werden
Mitarbeiterinnen mit Karriere-Ambitionen (IT-Mentee) werden durch ein Mitglied des erweiterten Führungsteams GLB-IT (Sponsor) gefördert. «Mit dieser Massnahme wollen wir sicherstellen, dass Mitarbeiterinnen die gleichen Chancen zum Weiterkommen haben wie ihre Kollegen.» Unter dem Oberbegriff «Seeing is believing» sucht man mithilfe verschiedener Massnahmen und Aktivitäten gezielt nach Mitarbeiterinnen, die ihr Expertinnen-Wissen und ihre persönlichen Erfahrungen teilen, ihre Erfolge kommunizieren, andere mit ihren eigenen Haltungen und Erlebnissen motivieren und anspornen. «Auf diese Weise wollen wir unseren IT-Mitarbeiterinnen intern und extern mehr Visibilität verleihen und positive Rollenmodelle vermitteln.»
“Wollen wir mit unseren Lösungen einer Vielzahl von Menschen gerecht werden, ist auch eine grosse Diversität bei den Entwickelnden nötig„
Thomas Kühne, Mobiliar
Damit Diversität langfristig zum Teil der Kultur der Mobiliar-IT wird, sucht man bei der Versicherung die Kooperation mit speziellen IT-Frauennetzwerken. Durch die Zusammenarbeit will man die Bedürfnisse der IT-Mitarbeiterinnen möglichst antizipieren und die Rahmenbedingungen entsprechend anpassen. So engagiert sich die Mobiliar beispielsweise als Sponsorin bei ICT Scouts und Campus. Ein Förderprogramm für die nächste Generation an ICT-Fachkräften, das auf ein ausgewogenes Verhältnis von Mädchen und Jungen achtet.
Harte Frauenquote eingeführt
Während in Wirtschaft und Politik noch über Quote oder Nicht-Quote diskutiert wird, hat man bei der IT der Mobiliar bereits Fakten geschaffen. Denn aus Sicht des IT-Chefs lässt sich der Frauenanteil nur mit einer harten Vorgabe erhöhen. «Auf Basis von Freiwilligkeit hat sich in der Gesellschaft bisher zu wenig bewegt. Deshalb habe ich für meinen Geschäftsleitungsbereich eine Frauenquote von 30 Prozent für Neu- und Ersatzrekrutierungen eingeführt.» Das heisst: Jede dritte rekrutierte Person im Bereich IT bei der Mobiliar muss eine Frau sein. Und wenn sich nur Männer eignen? «Finden wir keine Frau, wird die Rekrutierung kompromisslos gestoppt», stellt Kühne klar.
Auch im Führungsgremium der IT soll mehr Diversität vorherrschen. Noch dieses Frühjahr soll der Frauenanteil im IT-Führungsteam von zuvor 0 auf 20 Prozent steigen. Dafür holte man letztes Jahr Christina Petry als Leiterin des Bereichs «Solutions Trains Apollo» an Bord. Konkret verantwortet Petry die Themen Workplace und Collaboration. Zusätzlich tritt im März mit Franziska Paradies, als Leiterin des IT-Controllings und der IT-Stabsfunktionen, eine weitere Frau ins Leitungsgremium der IT ein. Auf diese Weise betrage der Frauenanteil im Top-Kader der Mobiliar-IT bereits 20 Prozent, freut sich Kühne.
Porträt: Mit Volldampf zum besten IT-Fachausweis
Als Kind wollte sie Kapitänin eines Dampfschiffs werden. Nun ist Nadia Jöhr Wirtschaftsinformatikerin bei der Mobiliar und gewann den ICT Award für den besten Fachausweis unter 238 Diplomierten. «Das Lernen hat sich ausbezahlt», freut sich Jöhr. Anfang November letzten Jahres wurde die 42-Jährige mit dem ICT Professional Award ausgezeichnet. Zusammen mit drei weiteren Absolventen schloss sie den eidgenössischen Fachausweis als Wirtschaftsinformatikerin mit dem besten Notenschnitt aller 238 Diplomierten ab. Als eine von nur 22 Frauen und einzige Absolventin ihres Kurses. «Den Erfolg verdanke ich vor allem meinem methodischen Vorgehen», ist die SAP-Spezialistin überzeugt.
Ihre Leidenschaft für Technik hatte Jöhr schon als Vierjährige entdeckt. Sie interessierte sich damals für die Schiffe auf allen Schweizer Seen. Aufgrund der Silhouette erkannte sie gar, um welches Schiff es sich jeweils handelt. Besonders angetan war sie vom Maschinen-raum mit der grossen Dampfmaschine. Ihr erster Berufswunsch folgerichtig: Dampfschiffkapitänin.
Auch für PCs interessierte Jöhr sich früh. Ins Internet, noch ganz neu, ging sie als Jugendliche an freien Nachmittagen in die Landesbibliothek zum Chatten. «Ich kannte damals noch niemanden mit einem privaten Internetanschluss.» Nicht verwunderlich also, dass sie später über die Wirtschaftsmittelschule und die Finanzen den Weg in die Informatik fand.
Die Mobiliar bietet im Bereich IT Teilzeitstellen an. Sonst würde sich nun vielleicht eine andere Firma über den Award ihrer Mitarbeiterin freuen. Denn als Jöhr vor eineinhalb Jahren eine neue Herausforderung suchte, kam für sie nur ein reduziertes Pensum infrage, da sie gerade am Anfang ihrer Weiterbildung zur Wirtschaftsinformatikerin stand und entsprechend Zeit fürs Lernen benötigte. «Im Bewerbungsgespräch bei der Mobiliar merkte ich sofort, dass dies hier kein Problem ist. Zudem stiess meine bereits begonnene Weiterbildung auf grosses Wohlwollen.» Jöhr trat ein 70-Prozent-Pensum an und die Mobiliar beteiligte sich an den Kosten ihres Fachausweises. Als SAP-Spezialistin kümmert sie sich aktuell um die Umstellung auf ein neues SAP-System.
Den Wechsel zur Mobiliar hat sie nie bereut: «Wer gerne immer wieder Neues lernen will, ist hier genau richtig.» Von ihrem ersten Berufswunsch Dampfschiffkapitänin ist Nadia Jöhr zwar abgekommen. Ihrer Passion blieb sie aber bis heute treu. Sie ist Mitglied in Dampfschiffvereinen am Lac Léman und an den Juraseen. Und wenn sie an ihrem Wohnort am Thunersee die «Blümlisalp» – den letzten Raddampfer auf dem Thunersee – pfeifen hört, werden Kindheitserinnerungen wach. (Susanne Maurer)