Prognose-Revolution 09.10.2023, 10:55 Uhr

KI sagt Lawinengefahr voraus

Das KI-Projekt «DEAPSnow» des Swiss Data Science Center (SDSC) und des WSL-Instituts für Schnee- und Lawinenforschung SLF hebt ­Prognosen auf ein ganz neues Niveau.
Eine bessere Vorhersage von Lawinen mithilfe von KI soll das Risiko in Schneesportregionen senken.
(Quelle: Shutterstock/Olleg Visual Content)
Die Berge sind in der Schweiz nicht nur ein Symbol nationaler Identität, sondern auch eine Quelle natürlicher Gefahren. Gerade in Schneesport­regionen sind sie ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Im vergangenen Winter wurden 230 Personen von La­winen erfasst – 23 dieser Ereignisse endeten tödlich. Das entspricht ungefähr dem langjährigen Durchschnitt von 24 Todesfällen pro Jahr. Die steigende Beliebtheit verschiedenster Bergsportarten und der damit einhergehende Zuwachs von Menschen in Gefahrenzonen verstärkt die Problematik. Dies unterstreicht die essen­zielle Notwendigkeit präziser, zeit- und ortsbezogener Prognosen der Lawinengefahr.
Im Auftrag des Bundes veröffentlicht das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF im Winter ein- bis zweimal täglich eine Lawinenprognose, auch als Lawinenbulletin bekannt, für die Schweizer Alpen, Liechtenstein und den Jura. Das Lawinenbulletin informiert die Öffentlichkeit in schneebedeckten Gegenden über die vorherrschende Lawinengefahr. Es unterstützt Privatpersonen und Institutionen, die der Lawinengefahr ausgesetzt sind, darunter lokale Lawinen- und Rettungsdienste, sowie Menschen, die Wintersport betreiben und am Berg wohnen.
Die Erstellung von Lawinenprognosen stützte sich bisher hauptsächlich auf das Fachwissen und die Erfahrung der Lawinenwarnenden. Täglich erfolgt eine umfassende Auswertung diverser Daten, darunter vergangene und prognostizierte Wetter- und Schneedaten. Dies dient dazu, die Lawinengefahr mittels eines zeitaufwendigen Entscheidungsprozesses zu beurteilen. Deshalb lancierte das SLF gemeinsam mit dem Swiss Data Science Center (SDSC), Schweizer Kompetenzzentrum für Datenwissenschaften der ETH Zürich und EPFL, im Jahr 2019 das Projekt «DEAP­Snow» mit dem Ziel, eine künstliche Intelligenz (KI) zu entwickeln, die bei der Entscheidungsfindung unterstützen und die Genauigkeit der Prognosen verbessern soll.

Von einem Daten-Meer zur Prognose

Die Lawinenbildung ist ein komplexes Zusammenspiel von Geländemerkmalen, meteorologischen Bedingungen, Schneedeckeneigenschaften und Auslösemechanismen. Infolgedessen können Lawinenwarnende für die Erstellung des Lawinenbulletins aus verschiedensten Datenquellen schöpfen.
So zum Beispiel das Interkantonale Mess- und Informationssystem (IMIS), ein schweizweites Netzwerk von Messstationen in lawinengefährdeten Gebieten. Heutzutage umfasst es insgesamt 186 Stationen, die verschiedene Wetter- und Schneekennzahlen messen, wie z. B. Schneeoberfläche- und Lufttemperaturen, Windrichtungen sowie -stärken und insbesondere die Schneehöhe.
Ein physikalisch basiertes Schneedeckenmodell (Snowpack) simuliert dann die Schichtung der Schnee­decke im Verlauf des Winters anhand der gemessenen Wetter- und Schneedaten an IMIS-Stationen. Insbesondere liefert Snowpack an den Standorten der IMIS-Stationen zahlreiche zusätzliche Messgrössen, wie die Neuschneemenge der letzten 24 Stunden, 3 Tage oder 7 Tage, die Aufschluss über die Schneedeckenstabilität geben. Komplettiert werden die Daten von numerischen Wettermodellen – zum Beispiel Cosmo von MeteoSchweiz – sowie Beobachtungen und Messungen von geschulten Beobachtenden im Gelände.
Anhand dieser Daten und mithilfe von Entscheidungsrichtlinien bewerten die Lawinenwarnenden die Lawinengefahr für die nächsten 24 Stunden. Die Gefahrenangabe richtet sich nach der fünfstufigen Europäischen Lawinengefahrenskala (1 = gering, 2 = mässig, 3 = erheblich, 4 = gross, 5 = sehr gross). Zudem werden Hangausrichtungen und Höhenlagen angegeben, um zu verdeutlichen, wo der Gefahrengrad am ausgeprägtesten ist. Um räumlichen Variationen in den erwarteten Lawinenbedingungen gerecht zu werden, ist das Gebiet der Schweiz in 149 Warnregionen von ungefähr gleicher Grösse unterteilt.
Die künstliche Intelligenz (KI) hat sich als unverzichtbares Werkzeug in verschiedenen Bereichen etabliert, da solche Modelle in der Lage sind, grosse Mengen an Daten effizient zu verarbeiten. Wie oben ausgeführt, unterliegt die Einschätzung der Lawinensituation einem nahezu ­unüberschaubaren Meer an Daten. Verglichen mit menschlichen Experten ermöglicht eine KI, die Lawinengefahr in kürzeren Zeitabständen zu evaluieren.
Studien haben zudem nachgewiesen, dass konventionelle Lawinenprognosen etwa zu 76 Prozent korrekt sind. Eine optimale, zusätzliche Integration von KI hat das Potenzial, diese Genauigkeit zu überbieten.
Eine der grössten Herausforderungen besteht darin, dass die Lawinengefahr nur schwer messbar ist. Somit verfolgte das Projekt «DEAPSnow» verschiedene Ansätze, um Lawinenprognosen zu verbessern und zu automatisieren. Dabei lag der Fokus immer darin, Modelle zu entwickeln, die Lawinenwarnerinnen und -warner bei der Entscheidungsfindung unterstützen. Ein Aspekt befasst sich mit der direkten Vorhersage der Gefahrenstufe, wie sie im Lawinenbulletin zu finden ist. Hierbei wird zunächst mithilfe meteorologischer und simulierter Messwerte die Lawinengefahr an den IMIS-Stationen durch ein «Random Forest»-Klassifizierungsmodell vorhergesagt. Für den Lernprozess des Modells werden die prognostizierten Lawinengefahren in den Lawinenbulletins der vergangenen 20 Jahre verwendet. In einem zweiten Schritt werden diese Vorhersagen mittels eines Interpolationsmodells auf die gesamte Schweiz erweitert, woraus dann die Gefahrenstufe für Warnregionen, wie sie im Lawinenbulletin zu finden sind, abgeleitet werden kann.
Im Projekt «DEAPSnow» steckt sehr viel harte wissenschaftliche Arbeit.
Quelle: SDSC
Ein weiterer Ansatz, bei dem das Projekt Fortschritte erzielte, ist die automatisierte Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten in Bezug auf die Lawinenaktivität und deren Ausmass, insbesondere von Nassschneelawinen. Dabei werden ähnliche Messwerte wie für die Vorhersage von Gefahrenstufen verwendet. Im Gegensatz zum vorherigen Modell nutzt dieser Ansatz für den Lernprozess jedoch Lawinenkataloge, die Aufschluss über vergangene Lawinenereignisse gewähren.
“Es ist stets faszinierend, die Grenzen der KI-Modelle für umwelt- und geowissenschaftliche Anwendungen zu erforschen und auszuloten, insbesondere für die Bewertung von Naturgefahren. Die Lösungsansätze sind oft alles andere als trivial und erfordern spezifische Anpassungen der Standardmethoden.„
Michele Volpi, Lead Data Scientist beim SDSC
In seiner Gesamtheit entwickelt das Projekt «DEAP­Snow» zwei unterschiedliche Ansätze, die kombiniert darauf abzielen, die Erstellung von Lawinenprognosen mittels innovativer künstlicher Intelligenz grundlegend zu revolutionieren.

KI macht andere Fehler als Menschen

Bevor KI-Modelle für kritische Entscheidungen, wie Lawinenprognosen, in der Praxis verwendet werden können, müssen sie ausgiebig überprüft werden. In den vergangenen drei Wintersaisons haben die Lawinenwarnerinnen und -warner des SLF in Davos die KI dazu genutzt, die nach traditioneller Methode erarbeiteten Prognosen mit der maschinellen zu vergleichen und auszuwerten.
«Das KI-Modell erreicht zwar noch nicht ganz das Niveau von menschlichen Prognosen, aber es liefert konsistente Ergebnisse bei gleichem Input und macht andere Fehler als der Mensch. Dadurch eignet es sich gut, menschliche Prognosen aus einem anderen Blickwinkel zu hinterfragen», sagt Frank Techel, Lawinenwarner beim SLF.
Die ETH zählt auf ihrer Website KI zu den «Technologien, die es Computern ermöglichen, Menschen bei Aufgaben zu helfen, die Intelligenz zur Lösung erfordern.»
Quelle:  ETH Zürich/John Devolte
Obwohl die KI im Allgemeinen eine Genauigkeit aufzeigt, die der des Menschen nahekommt, wurden bestimmte Fehlermuster identifiziert. Ein Beispiel hierfür ist die Herausforderung bei der Vorhersage der Gefahrenstufen bei Altschneebedingungen. Zudem zeigt die KI eine geringere Präzision bei den Gefahrenstufen 4 und 5 im Vergleich zu den restlichen Stufen. Es ist deshalb wichtig, diese typischen Fehler zu kennen, um die von KI erstellten Prognosen mit Bedacht in den Entscheidungsprozess einbeziehen zu können. Eine zentrale, noch nicht abschliessend geklärte Fragestellung ist die der optimalen Integration des KI-Modells in den Prognoseprozess. Insbesondere stellt sich die Frage, ob das KI-Modell situativ als externe Expertenmeinung hinzugezogen werden sollte oder ob es stärker automatisiert in die Prognose einfliesst. Jedoch, wie Lawinenwarner Frank Techel erläutert, ist er überzeugt, dass eine räumlich und zeitlich höher aufgelöste Lawinenprognose nur mittels KI-basierten und physikalischen Modellen erreicht werden kann.

Wie weiter?

Das Projekt «DEAPSnow» markiert durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz einen bedeutsamen Fortschritt in der Lawinenprognose. Es legt den Grundstein für präzisere, zeitnahe und automatisierte Lawinenvorhersagen, indem es menschliche Expertise mit KI-Modellen kombiniert. Dies verdeutlicht, wie die enge Kooperation zwischen Fachpersonen des SLF und Datenforschende des SDSC den Einsatz von künstlicher Intelligenz vorantreibt. Dennoch besteht genug Raum, die bestehenden KI-Modelle zu verbessern, um zukünftig die Sicherheit in Bergregionen noch effektiver zu gewährleisten.
«Es ist stets faszinierend, die Grenzen der KI-Modelle für umwelt- und geowissenschaftliche Anwendungen zu erforschen und auszuloten, insbesondere für die Bewertung von Naturgefahren. Die Lösungsansätze sind oft alles andere als trivial und erfordern spezifische Anpassungen der Standardmethoden», sagt Michele Volpi, Lead Data Scientist beim SDSC.
“Das KI-Modell erreicht zwar noch nicht ganz das Niveau von menschlichen Prognosen, aber es liefert konsistente Ergebnisse bei gleichem Input und macht andere Fehler als der Mensch. Dadurch eignet es sich gut, menschliche Prognosen aus einem anderen Blickwinkel zu hinterfragen.„
Frank Techel, Lawinenwarner beim SLF
Ein weiterführendes Projekt entwickelt eine innovative Methode zur Echtzeiterkennung von Lawinen in seismischen Daten, anhand der von ihnen erzeugten Vibrationen, ähnlich, wie es bei der Erdbebenerkennung der Fall ist. Eine Umsetzung dieser Methode in ein schweizweites Erkennungssystem könnte Lawinenwarnende dabei unterstützen, die zeitliche Komponente der Lawinengefahr besser zu beurteilen.
Gleichzeitig steht ein Projekt in den Startlöchern, das beabsichtigt, Mess- und Simulationsdaten an IMIS-Stationen mittels Interpolationsverfahren in höherer Auflösung zur Verfügung zu stellen. Dies wiederum ermöglicht KI-Modellen, die Gefahrenstufe in einer höheren Auflösung vorherzusagen.
Die Autoren
Alessandro Maissen ist Data Scientist beim Swiss Data Science Center (SDSC). Er war in seiner Masterarbeit am Projekt «DEAPSnow» beteiligt, das in enger Zusammenarbeit zwischen dem SDSC und dem WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF umgesetzt wird.
SDSC
  • Alessandro Maissen, Data Scientist
  • Dr. Michele Volpi, Lead Data Scientist
  • Dr. Guillaume Obozinski, Deputy Chief Data Scientist
  • Prof. Dr. Fernando Perez-Cruz, Deputy Executive Director, Chief Data Scientist
SLF
  • Andri Simeon, Wiss. Mitarbeiter Lawinenbildung und Lawinendynamik
  • Dr. Cristina Pérez Guillén, Wiss. Mitarbeiterin Lawinenbildung und Lawinendynamik
  • Dr. Frank Techel, Wiss. Mitarbeiter in der Lawinenwarnung
  • Dr. Alec van Herwijnen, Leiter Abt. Lawinenbildung und Lawinendynamik
  • Dr. Martin Hendrick, Wiss. Mitarbeiter Lawinenbildung und Lawinendynamik
  • Prof. Dr. Jürg Schweizer, Leiter des Instituts



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