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15.03.2023, 06:15 Uhr
Qualität muss das Asset bleiben
Überall fehlen Ressourcen. Warum nicht die Qualität reduzieren? Weil dies die Abkehr vom Schweizer Erfolgsmodell wäre. Qualität ist zwar teuer, hat die Schweiz aber auch reich gemacht.
Der westliche Fortschrittsglaube besteht aus zwei Axiomen: Erstens ist die Gegenwart besser als die Vergangenheit und zweitens wird die Zukunft besser sein als die Gegenwart. Die neuen Krisen haben das erste Axiom infrage gestellt. Wir dachten, dass wir Pandemien, den Krieg und die Armut in Europa überwunden hätten. Zu wenig Geld zum Heizen könnte nie wieder ein Problem sein. Und wir glaubten an viele weitere Errungenschaften – unter anderem Basel II –, die uns heute nur deshalb nicht mehr in Erinnerung sind, weil wir meinen, die damit verbundenen Desaster mittlerweile durch neue Regeln für die Zukunft ausgeschlossen zu haben.
Alles ganz falsch. In welche Richtung wir auch schauen, wir müssen feststellen, dass die Demokratie erodiert und die wirtschaftlichen Zukunftsaussichten sich eintrüben. Die neue Fragwürdigkeit des ersten Axioms beginnt die Glaubwürdigkeit des zweiten Axioms zu untergraben. Offensichtlich werden wir ein Klimaproblem haben. Viel direkter betroffen sind wir aber schon heute durch den Verlust von individuellen Zukunftschancen. Langfristige Versprechen – beispielsweise von Unternehmen an ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – sind kaum mehr glaubwürdig, gute Ideen haben nur mehr selten eine Chance und persönliche Beziehungen sind wichtiger als je zuvor, damit junge Menschen Karriere machen können. Sozialer Aufstieg ist so fast unmöglich, sozialer Abstieg für viele schon Realität. Die Lebenserwartung von Menschen ohne Bachelorabschluss sinkt in den Vereinigten Staaten seit Jahren.
“Wir sollten uns bewusst sein, dass das Geschäftsmodell der Schweiz vor allem «hohe Qualität» ist„
Reinhard Riedl
Nur in der Schweiz scheint alles anders. Vielleicht ist das so, doch wir sollten uns bewusst sein, dass das Geschäftsmodell der Schweiz vor allem «hohe Qualität» ist. Weil wir den Reichtum auch in gute Infrastruktur investieren, ist sie für uns billiger (!) als für andere und schafft bessere Voraussetzungen für den Umgang mit Krisen. Weil wir uns Ausbildung etwas kosten lassen, haben Unternehmen hohe Fachexpertise und sind krisenresilienter. Weil Schweizer Produkte weltweit für hohe Qualität stehen, brummt unsere Wirtschaft. Es würde dieses «Schweizer» Geschäftsmodell beschädigen, wenn wir zunehmend Qualitätsabstriche akzeptierten oder die Ausbildung auf kurzfristigen Karriere- oder Firmennutzen ausrichteten. Qualität ist teuer, langfristig aber hochprofitabel. Wer aufgrund schwierigerer ökonomischer Verhältnisse darauf verzichtet, nimmt einen Kredit mit hohen Zinsen auf.
Rückschritte und Verzicht sind – nach heutigem Wissensstand – nicht mehr abwendbar. Umso wichtiger ist es, dass wir auch in Zukunft am Schweizer Erfolgsmodell der hohen Qualität festhalten. Dazu gehören die teuer aufgebaute Expertise, das ganzheitliche Denken, die Vertrauenswürdigkeit und die Ehrlichkeit, aber auch ein Verständnis dafür, dass das Qualitätsgeschäftsmodell nur dann rentiert, wenn es breit in der Gesellschaft verankert ist.
Der Autor
Reinhard Riedl
beschäftigt sich mit der menschenzentrierten Entwicklung digitaler Lösungen in verschiedenen Sektoren: Gesundheitswesen, Sport, Kunst, Stadt- und Regionalentwicklung, Verwaltung, Landwirtschaft und Verkehr. Er ist Herausgeber des Wissenschaftsblogs «Societybyte» der Berner Fachhochschule. www.societybyte.swiss