Business-Software
04.06.2014, 06:00 Uhr
Die Macht der Anwender
Die klassischen Business-Software-Anbieter tun sich noch schwer damit, ihre Produkte zu «konsumerisieren». In der Wirtschaft hat der technologische Wandel unterdessen begonnen und lädt zu Experimenten ein.
Die Ernüchterung ist gross: Alle Welt spricht von der Konsumerisierung der Unternehmens-IT, die Anwender fordern sie vehement ein, aber die Anbieter von Business-IT-Lösungen machen noch nicht recht mit. Auf die Frage, wie sich die Konsumerisierung der IT auf ihre Geschäfte auswirkt, antwortete die Mehrheit der von Computerworld befragten Top-500-ICT-Unternehmen zwar noch im letzten Jahr, dass der Beratungsbedarf durchaus hoch sei (41 Prozent) und passende Angebote demnächst ausgebaut würden (16 Prozent). Allerdings waren ganze 30 Prozent, also fast ein Drittel der von uns befragten ICT-Firmen, der Meinung, dass die Konsumerisierung «keinen Einfluss auf das Geschäft» haben werde. Anfang dieses Jahres fühlte das Beratungsunternehmen sieber&partners der Schweizer Software-Industrie noch einmal auf den Zahn. Anlässlich des Branchenbarometers «Swiss Software Industry Index» (SSII) wurden 111 einheimische Entwicklerfirmen zu ihren Investitionen und Projekten in Richtung Konsumerisierung von Unternehmens-IT befragt. Die ernüchternde Antwort auch hier: Nur 14 Prozent investieren signifikant in die Konsumerisierung ihrer Software (vgl. Abb. rechts), fast ein Drittel (32 Prozent) sieht in dem Trend kein Geschäft. Verschlafen die Schweizer Unternehmen hier einen Megatrend? Nächste Seite: Anwendernahe Bedienung Die Konsumerisierung der Business-IT hat diverse Ausprägungen. Der Begriff umschreibt im Wesentlichen die Übertragung der aus dem privaten (Consumer-)Umfeld erworbenen Erwartungshaltung an den Umgang mit IT – Stichwort BYOD – in die Geschäftswelt. Dazu zählen etwa moderne Bedienungsoberflächen (auch für die Fingerbedienung), die App-Metapher für jegliche Software, aber auch der Wandel des gesamten Geschäfts durch Informatik.
Anwendernahe Bedienung
Die Schweizer Grossbank UBS hat beispielsweise viel Lob für ihr neues Banking-Interface geerntet. «Das E-Banking der UBS zeigt eine Aufbruchstimmung und Entschlossenheit, die viele Wettbewerber vermissen lassen», begründete die Jury die Verleihung mehrerer «Best of Swiss Web»-Auszeichnungen für das Banking-Portal Anfang April. Die prämierte Lösung hatte die Grossbank Ende 2013 lanciert, gleichzeitig für den Desktop, das Tablet und das Smartphone. Andere Institute stehen noch nicht so gut da, obgleich aus Insiderkreisen zu vernehmen ist, dass die UBS-Lösung eine Signalwirkung hat. Dass der User heute ein gewichtiges Wörtchen dabei mitzureden hat, wie seine Software aussehen soll, hat auch Microsoft zu spüren bekommen: Das «Modern User Interface» der neuen Windows-8-Oberfläche – wie der Kachelbildschirm offiziell heisst – wurde von vielen Anwendern als wenig intuitiv und ungeeignet für die Maussteuerung kritisiert. Inzwischen lassen sich die Kacheln weitreichend konfigurieren oder ultimativ abschalten. Die Benutzermeinung und die Gewohnheit haben sich gegen die Redmonder Interfacedesigner durchgesetzt. Allerdings gibt es durchaus Szenarien, in denen Kacheln und Touch-Bedienung sinnvoller sind als die Maus. IVF Hartmann setzt beispielsweise im Aussendienst auf Fujitsu-Tablets mit Windows 8. Die wichtigste App ist das CRM-System Pharmapilot, das Pharmakon Software als Windows-8-App ausliefert. «Der Aussendienst kann nun komplett mobil und mit Touch-Bedienung arbeiten», sagt Edward Mulder, Head Organization & Information Services bei IVF Hartmann. Jedoch sind Fingerbedienung und Windows-Tablets am normalen Büroschreibtisch selten – und werden es voraussichtlich auch noch lange bleiben.
Eine ähnliche Legacy schleppt ERP-Weltmarktführer SAP mit sich herum. Es sei dringend nötig, die User Interfaces zu modernisieren, forderte erst im Februar dieses Jahres wieder Andreas Giraud, Vorstandmitglied der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG). Die Walldorfer sind sich darüber bewusst, dass hier Handlungsbedarf besteht. Nicht zuletzt Aufsichtsratschef Hasso Plattner betitelte seinen eigenen Konzern als «zu bürokratisch, zu kompliziert, zu zögerlich». Um dies zu ändern, hatte SAP mit dem Projekt «Fiori» Mitte 2013 eine App-Initiative aufgegleist – reichlich spät für den ERP-Weltmarktführer, aber immerhin. Nächste Seite: App-Economy
App-Economy
Apps sind bei UBS, Microsoft und auch bei SAP nichts anderes als Software mit einer (reduzierten) angepassten Oberfläche. Wer übrigens glaubt, die «Progrämmchen» kämen allein aus ausländischen Entwicklerstuben, täuscht sich. Die Schweizer Software-Industrie ist längst auf den Zug aufgesprungen und versucht, einen Platz in der «App Economy» zu ergattern. Schon Anfang 2013 hatten bereits mehr als die Hälfte aller hiesigen Software-Hersteller mindestens eine App entwickelt, wie der «Swiss Software Industry Index» belegt. Bis 2015 wollen drei Viertel (74 Prozent) der Entwickler hierzulande auch Apps herstellen und vermarkten.
Der Index belegt aber auch, dass mehr als die Hälfte der Unternehmen (52 Prozent) mit den Apps noch kein Geld verdient. Die Lösungen werden heute oft nur als reines Marketinginstrument angesehen und kostenlos abgegeben. Selbst die Auftragsentwickler verdienen erst wenig damit: Apps machen weniger als einen Viertel des Gesamtumsatzes aus. Doch dies soll sich ändern: Immerhin ein Viertel der Schweizer Programmierhäuser glaubt, dass sie bis 2015 mehr als 25 Prozent des Umsatzes mit Apps erzielen kann. Nächste Seite: Markt im Wandel
Markt im Wandel
In der «App Economy» werden Umsätze anders erwirtschaftet als im Software-Geschäft. Das gilt für den Alltag genauso wie für das Firmengeschäft. Anbieter von Apps werden nicht direkt für die Entwicklungsleistung bezahlt, sondern über Drittunternehmen, die entweder innerhalb der App werben, virtuelle Gegenstände verkaufen oder die Benutzerdaten zweitverwerten. «Wer nicht für ein Produkt bezahlt, ist selbst das Produkt», bringt es Gilles Grapinet, Senior Executive Vice President des Technologie-Unternehmens Atos auf den Punkt.
In diesem indirekten Business-Modell zahlen Dritte dafür, zum Beispiel die Nutzerdaten oder anonymisierte Informationen in Echtzeit zu erhalten und dann direkt agieren zu können. Meldet sich etwa ein Facebook-User per Check-in am Berner Loebegge an, kann ein findiger Shop dem Anwender umgehend eine Promo-Nachricht aufs Smartphone-Display senden, um ihn in seinen Verkaufsraum zu lotsen. Nächste Seite: Neue Geschäftsmodelle wagen
Neue Geschäftsmodelle wagen
Jenseits der Marketingaktionen nutzen einige Unternehmen die «Consumer-Technologien» aber auch für neue Geschäfte. Das Beratungsunternehmen Accenture führt in seinem Report «Technology Vision 2014» den britischen Detailhändler Tesco an, der mittlerweile 20 Prozent seiner Onlineverkäufe via Smartphone abwickelt und erfolgreich in den elektronischen Buchvertrieb eingestiegen ist. Hierzulande verzeichnete die Migros-Tochter LeShop 2013 sogar 30 Prozent aller Bestellungen via Mobile und Tablet – im Vorjahr waren es noch 14 Prozent. Der Buchhändler Orell Füssli mutierte 2010 zum Elektronik-Shop, als im Jahresendgeschäft firmeneigene E-Book-Reader vorgestellt wurden. Die Expansion oder Mutation des bestehenden Geschäftsmodells mithilfe von Technologie sehen die Berater von Accenture folglich als eine der zentralen Herausforderungen für die nächsten drei Jahre. Dabei können die Start-ups der Vergangenheit wie Airbnb, TripAdvisor, Twitter oder Zipcar die Geschäftsideen liefern, während das laufende Business die Ressourcen bereitstellt. Accenture rät den Unternehmen, mit Ausgründungen oder kleinen Teams experimentierfreudig zu sein und auch einen Misserfolg zu riskieren. Die Aktionäre würden die Projekte spätestens dann goutieren, wenn neben dem Kerngeschäft und der Marke auch noch der erfolgreiche Eintritt in andere Märkte oder Geschäftsfelder gelingt, so die Berater. Denn so oder so: «Konsumerisierung setzt sich durch», ist Bogdan Sutter, Leiter Digital Transformation bei PwC Schweiz, überzeugt. Wenn nicht mit den traditionellen ICT-Anbietern, dann eben an ihnen vorbei.