28.04.2016, 19:26 Uhr
Schweizer App macht Billetkauf obsolet und revolutioniert Ticket-Systeme
Die Rhätische Bahn hat eine App lanciert, die das Ticketing-System auf eine neue Stufe hieven kann. Benutzer müssen keine Billets mehr kaufen und Transportunternehmen sollen Millionen sparen.
Die Schweiz und der öffentliche Verkehr, diese Beziehung funktioniert. Kaum ein Land verfügt über eine bessere Abdeckung, nirgends kommen Transportmittel pünktlicher an und auch der Komfort in den Wagen ist zufriedenstellend. Dazu tragen nicht nur die Schweizerischen Bundesbahnen, sondern auch Postautos und die vielen kleineren Betriebe bei, die sich zumeist in der Hand von Kantonen und in wenigen Fällen in Privatbesitz befinden. Bei einem Thema haben sie aber allesamt Nachholbedarf: Technische Innovation. Heute müsste mehr möglich sein, als Tickets oder Fahrplaninformationen mit dem Handy aufzurufen. Besonders im Bereich der Fahrkarten scheint es Optimierungspotenzial zu geben: Lange Schlangen in den Schalterhalten prägen nach wie vor das Bild an Bahnhöfen, der SwissPass ist auch noch nicht das Produkt, auf das die Schweiz gewartet hat.
Drei Verbünde ab sofort
Erfreulich ist deshalb, dass heute von der Rhätischen Bahn (RhB), der Freiburgischen Verkehrsbetriebe (TPF), der Verkehrsbetriebe Luzern (vbl) und ihrem Partner Fairtiq AG eine Lösung vorgestellt wurde, die das Potenzial hat, den Billetverkauf auf die nächste Entwicklungsstufe zu hieven. Mit der App Fairtiq soll die Zeit, als man hektisch in letzter Sekunde ein Ticket kaufen musste und jeweils die Tarife der verschiedenen Zonen checken musste, vorbei sein. Stattdessen lädt der Nutzer die App (kostenlos, für Android und iOS) herunter, meldet sich an, wenn er in ein Transportmittel steigt und ab, wenn er es wieder verlässt. Dank einer Ortung des Geräts kann die App nachvollziehen, wohin der Fahrgast fährt. Die App errechnet daraus automatisch den Fahrpreis und sorgt dafür, dass der Kunde immer den besten Preis für sein Ticket erhält. Wenn beispielsweise zwei Einzelkarten für eine Strecke gekauft werden, für die es eine günstigere Tageskarte gibt, teilt die App das dem Nutzer mit und verlangt den niedrigeren Preis. Die Abrechnung erfolgt wahlweise über Kreditkarte oder Handyrechnung. Vergisst der Passagier, sich «auszuchecken», erhält er von der App eine entsprechende Mitteilung. Sie soll nämlich in der Lage sein zu unterscheiden, ob der Nutzer noch im ÖV oder schon zu Fuss beziehungsweise auf dem Fahrrad oder im Auto unterwegs ist. Seit heute kann die App in den Tarifverbünden Frimobil (FR), Passepartout (LU, OW, NW) und Engadin mobil (GR) genutzt werden. Dank standardisierter Schnittstellen soll die App, im Gegensatz zu bisherigen Lösungen, die nur regional eingesetzt werden können, in sämtlichen Tarifverbünden eingesetzt werden können. Um die Unabhängigkeit der App zu gewährleisten, wurde die Fairtiq AG gegründet. Die Rhätische Bahn betreibt das System für Engadin mobil, den integralen Tarifverbund Oberengadin. Sie hat sich aus verschiedenen Betriebsvarianten für eine Kombination von SaaS und on Premise-Lösung entschieden. Die standardisierten Schnittstellen und die Möglichkeit, bestehende Prozesse aus dem eTicketing-Bereich zu verwenden, seien dabei ausschlaggebend gewesen, erklärt Urs Püntener, IT-Chef der RhB. Damit könne diese Ticketing-App auch von IT-Organisationen kleinerer Transportunternehmen problemlos eingeführt und betrieben werden. Zum Geschäftsmodell sagt Püntener allerdings nichts.
Keine RFID-Chips
Das revolutionäre an Fairtiq ist, dass sie vollkommen ohne Hardwareinstallationen auskommt. Es gibt bereits Versuche in der Schweiz, bessere Ticketing-Systeme einzuführen. Diese zielen bisher darauf ab, RFID-Chips in die Wagen einzubauen, um die Kunden beim rein- und rausgehen zu erfassen. Eine erste Version davon testete der Verband öffentlicher Verkehr bereits im Jahr 2001, die Investitionskosten waren aber viel zu hoch. Vor zwei Jahren wurde im Kanton Zug ein neuer Anlauf mit «easy Ride» gestartet, für den Testversuch werden 10 bis 15 Millionen Franken veranschlagt. In eine ähnliche Richtung geht das Projekt «Be in, be out» der Südostbahn, die Ende 2015 Siemens den Auftrag gaben, ein E-Ticket-System zu realisieren. Das Problem dieser Systeme: Die Wagen müssen entsprechend ausgerüstet werden. Einerseits ist das relativ kostspielig, andererseits dauert es eine ganze Weile, bis eine ganze Flotte die Werkstatt gesehen hat. Bei Fairtiq entfallen diese Hardwareinstallationen. Stattdessen ortet das System den Passagier zuerst via Standortinformation der GSM-Zellen und falls diese nicht genügend Empfang bieten, via öffentlichem WLAN-Hotspot. Falls auch damit keine eindeutige Positionierung möglich ist, wird GPS dazugeschaltet. Gemäss Urs Püntner, CIO der Rhätischen Bahn, wurden in den letzten zwölf Monaten 5000 Testfahrten gemacht, die eine Präzision von 99,96 Prozent erreichten. Wobei anzunehmen ist, dass das Bündnerland aufgrund seiner Topographie nicht zu den Kantonen mit der besten Netzabdeckung gehört. Die Daten werden laut Püntener bis auf die Standortdaten, die für die Preiserhebung relevant sind, auf dem Smartphone gespeichert. Ausser der Handynummer erfahre Fairtiq aber nichts und könne so auch den Besitzer nicht eruieren.
Warteschlangen wird es immer geben
Fairtiq scheint gelungen. Während andere Transportunternehmen seit Jahren mit neuen Systemen experimentieren, wurde Fairtiq innerhalb eines Jahres agil entwickelt, getestet und ausgerollt. Auch Fairtiq ist aber nicht perfekt. So werden Ticketkontrollen nicht besser funktionieren als bisher - immerhin kann sie aber jeder Kontrolleur durchführen, der einen SwissPass prüfen kann. Wenn das Handy keinen Akku hat oder dieser auf dem Reiseweg schlapp macht, funktioniert das System nicht. Zudem ist Fairtiq vor allem etwas für technikaffine Leute. Wer kein Smartphone besitzt oder keine Apps benutzen kann, muss weiterhin am Schalter anstehen.