16.05.2014, 12:57 Uhr
Für wen bremst das Roboterauto?
Roboterautos werden irgendwann unsere Strassen befahren. Doch was hat dieser Kontrollverlust für Auswirkungen? Maschinenethiker Oliver Bendel macht sich Gedanken.
Was ist technisch möglich bei selbstfahrenden Autos? Und führt dies in ein moralisches Dilemma? (Foto: Toyota)
Wenn man durch die Landschaften Madeiras fährt, kann es einem passieren, insbesondere in den Bergen, dass man in Schmetterlingsschwärme gerät. Die Tiere scheinen sich dem Auto entgegenzustürzen, kleine Kamikazeflieger, wunderschön und lebensmüde. Man erschrickt, man überlegt, was man tun kann, man versucht zuerst auszuweichen, dann lässt man es sein, denn hinter jeder Kurve sind neue Schwärme, und von links und rechts fallen sie über den traurig gewordenen Fahrer her. Kleinstlebewesen sind ein Problem im Strassenverkehr und werden es vermutlich immer sein. Klein- und Grosslebewesen dagegen kann geholfen werden. Zum Beispiel mit Fahrerassistenzsystemen (FAS) der etwas anderen Art. Das Argument liegt nahe, dass zuerst den Menschen geholfen werden muss. Der Strassenverkehr ist für sie gemacht, nicht für Frösche auf Wanderung und nicht für Rehe, die verdutzt auf der Fahrbahn stehen. Über eine Million Menschen sterben weltweit jährlich im Verkehr, etliche Millionen werden verletzt, etliche Millionen Familien und Partner leiden mit – und an den Folgen. Es ist erstaunlich, dass die Opfer als Kollateralschaden betrachtet werden. Natürlich unternimmt und erfindet man einiges, um die Zahl zu reduzieren, von Geschwindigkeitsbegrenzungen und künstlichen Hindernissen über Knautschzonen und Airbags bis hin zur sogenannten Car IT. Aber letztlich erschrickt man über 100 Tote nach einem Terroranschlag mehr als über die Millionen, die Jahr für Jahr sitzen- oder liegenbleiben, bis man sie abtransportiert.
Das eine tun und das andere nicht lassen
Das Argument ist aber eigentlich keines. Denn man kann etwas für die Menschen tun und zugleich die Tiere nicht vergessen. Ohne Zweifel gibt es Prioritäten, und ohne Zweifel geht die Sicherheit des Menschen im Strassenverkehr vor. Eine Vollbremsung für einen Igel ist – so würden es die meisten sehen – keine gute Idee, wenn der Hintermann drängelt. Oft sind solche Konflikte aber gar nicht existent. Man kann so oder so viel mehr tun, als es heute der Fall ist. Eine Frage ist, ob sich die Industrie (von Automobilherstellern wie VW, BMW und Mercedes bis zu Zulieferern wie Bosch und Continental) dafür begeistern lässt. Eine andere ist, ob sich die Wissenschaft der Beziehung von PKW und Tier nachdrücklich annimmt. In anderen Bereichen werden Tierkollisionen intensiv erforscht. Das hat in erster Linie (sicherheits-)technische und wirtschaftliche Gründe. Vogelschwärme können gefährlich für Flugzeuge sein, wenn sie in die Triebwerke geraten. Der Deutsche Ausschuss zur Verhütung von Vogelschlägen im Luftverkehr (DAVVL) befasst sich seit den 1960er-Jahren mit dieser Herausforderung. Auch für die Landwirtschaft engagiert man sich in der Wissenschaft, etwa mit Blick auf Rehkitze in Feldern. Diese springen meist nicht auf, wenn sich ein Mähdrescher nähert, sondern kauern sich voller Angst auf den Boden. Wenn sie zerhäckselt werden, ist das weder gut für die Maschine noch für den Menschen, der diese reparieren und reinigen muss. Und schon gar nicht für die Tiere. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Weiterentwickung von Fahrerassistenzsystemen
Weiterentwicklung von Fahrerassistenzsystemen
Im Folgenden werden Vorschläge zur Weiterentwicklung der FAS im Sinne der allerschwächsten Verkehrsteilnehmer unterbreitet. Da es um die Vermeidung von Tod und Leiden geht, kann die Ethik herangezogen werden, in diesem Kontext etwa in Form der etablierten Bereichsethiken Informations-, Technik- und (vor allem) Tierethik sowie der neuen Disziplin der Maschinenethik, die sich (teil-)autonomen, intelligenten Systemen und ihren Entscheidungen in moralischen Zusammenhängen widmet. Zudem ist der Tier- und Umweltschutz relevant. Die Liste ist nicht vollständig, und die einzelnen Punkte werden nicht im Detail ausgearbeitet. Es soll ein Beitrag sein, von dem ausgegangen und von dem aus weitergegangen werden kann.
Brems- und Notbremsassistent
Der Bremsassistent ist bereits heute von Bedeutung, da er menschliche Aktionen und Reaktionen begleitet, die sich auf Tiere beziehen können. Es wären Systeme sinnvoll, die zwischen verschiedenen Individuen und Arten zu differenzieren vermögen. Sie könnten den Fahrer über Hintergründe und Umstände informieren und Entscheidungshilfen liefern, wobei Erkenntnisse der Tierethik und der Umweltethik bzw. der Forschung zur Biodiversität interessant wären, und ihn (sofern notwendig) beim Bremsen unterstützen. Bei den Einzelwesen ist wichtig, ob und wie sie zu leiden vermögen. Ob es sich um Kleinst-, Klein- oder Grosslebewesen handelt, ist für die Leidensfähigkeit relevant – und für die Fahrsicherheit. Bei den Arten dürfte eine Rolle spielen, ob sie gefährdet oder existenziell für andere Arten sind. Wünschenswert wären Weiterentwicklungen bei der Sensorik und bei der Bild- und Mustererkennung. Die Autos sollten die Tiere nicht bloss sehen, über die Möglichkeiten konventioneller Kameras hinaus, sondern auch hören, was nicht zuletzt Frequenzen betrifft, die Menschen nicht zugänglich sind. Ferner könnte man Funkchips einbeziehen, und zwar sowohl solche, die in die Umgebung integriert werden, als auch solche, die in irgendeiner Form bereits vorhanden sind, wie Funkchips bei Nutztieren. Die Kuh, die sich auf die Strasse verirrt, könnte den Fahrer damit auf elektronischem Wege warnen. Auch der Notbremsassistent kann in Verbindung mit geeigneten Technologien tierisches Leiden vermeiden und den Tod von Lebewesen verhindern. Es sind Komponenten auf dem Markt, die mit Hilfe von Nachtsichtgeräten Menschen und Tiere in der Nacht zu erkennen und voneinander zu unterscheiden vermögen. Sie sind mit dem Notbremssystem kombinierbar, das automatisch aktiv wird, wenn nur wenig Zeit für eine menschliche Reaktion bleibt. Komplizierter ist die Situation, wenn das Auto von einem weiteren dicht gefolgt wird. Ein zentrales Ziel ist, dass keine unnötige Gefahr für die Verkehrsteilnehmer entsteht, durch welche Beteiligte und Fahrzeuge auch immer. Es wären wiederum Systeme denkbar oder notwendig, die nicht nur zwischen Menschen und Tieren, sondern auch zwischen Tieren (als Individuen) und zwischen Arten differenzieren können. Wenn selbstständig Vollbremsungen eingeleitet werden, ist die Maschinenethik mit im Spiel. Die Maschine muss im vorliegenden Kontext Entscheidungen fällen, die moralische Relevanz haben, nämlich das Wohl des Tiers betreffen. Grundsätzlich wären neben geeigneten Regeln und passenden Modellen der normativen Ethik wiederum Weiterentwicklungen bei der Sensorik und bei der Bild- und Mustererkennung wünschenswert. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Spurwechselassistent
Spurwechselassistent
Der Spurwechselassistent scheint im vorliegenden Kontext zunächst keine Bedeutung zu haben. Wenn er bei einem Tier anschlägt, ist die Gefahr bereits vorüber. Allerdings kann ein erweiterter Assistent andere Autos bzw. Fahrer oder die Autobahnmeisterei über ein Tier auf der Fahrbahn oder der Notspur informieren. Dies kann der Bremsassistent im Prinzip ebenso; im Falle des Spurwechselassistenten werden aber auch Tiere erfasst, die für das eigene Fahrzeug nicht relevant sind und eventuell von anderen Systemen gar nicht erkannt und berücksichtigt werden. Mit Hilfe spezieller Komponenten und Sensoren wären auch Aussagen zu Grösse, Geschlecht, Zustand und zur Art und zum Ziel der Fortbewegung des Tiers möglich. Wiederum könnten RFID-Systeme einbezogen werden. Ein auf diese Weise ergänzter Assistent wäre ferner in der Lage, das Verhalten von Vögeln zu analysieren, die am Strassenrand auf tierische Opfer warten und selbst potenzielle Opfer sind. Und er könnte eine Lösung für das Problem mit den Rehkitzen sein. Wenn der Mähdrescher seine Bahnen fährt, nimmt er das Tier zu seiner Seite wahr und kann den Fahrer informieren oder – eine Aufgabe für die Maschinenethik – selbst adäquat reagieren.
Verkehrszeichenerkennung
Hilfreich ist auch der Einbezug der Verkehrszeichenerkennung («traffic sign recognition»). Diese ist heutzutage in der Lage, solche Warn-, Gebots- und Verbotszeichen zu identifizieren, die sich auf Tiere beziehen, z.B. zum Wildwechsel oder zu einem Reitweg. Aus der Perspektive des Tier- und Umweltschutzes und einer (in bestimmter Weise) normativ verstandenen Tier- bzw. Umweltethik sind sowohl Individuen als auch Arten schützenswert. Es können prinzipiell sogar Verkehrszeichen, die nicht normiert sind, wie selbstgemalte Schilder, die auf Almabtriebe oder Froschwanderungen hinweisen, berücksichtigt werden. Die Verkehrszeichen können mit Signalen bzw. Sendern versehen werden, damit das System nicht allein auf Bild- und Mustererkennung und Datenbanken angewiesen ist. Wenn sich das Fahrzeug nähert, erfährt es über diese Technologien, um welche Gefahr es sich handelt, ob sie aktuell besteht und wie ihr am besten begegnet werden kann. Wenn die Verkehrszeichenerkennung mit Notbremsassistenten gekoppelt ist, kann das Fahrzeug bei Bedarf selbst abbremsen. Wieder wird die Maschinenethik gefragt sein. Es muss implementiert werden, für welche Tiere das Auto bremst und für welche nicht, auch mit Rücksicht auf die Insassen und andere Verkehrsteilnehmer. Es geht generell um eine Weiterentwicklung der Assistenzsysteme, aber ebenso der Umgebung, in die sogenannte denkende Dinge integriert werden und die Teil des Internets der Dinge wird. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Blick in eine vollautomatisierte Welt
Der Blick in eine vollautomatisierte Welt
Bei selbstständig fahrenden Autos, die in der Mediensprache und im (keinesfalls nur nachplappernden) Volksmund auch als Roboterautos vorkommen, sind weitere Funktionen möglich. Sie können aufgrund aktueller Informationen eigenständig problematische Gebiete oder Tageszeiten meiden, kritische Verkehrssituationen analysieren und bewerten, um dann adäquate Entscheidungen zu treffen, und Interaktionen mit Lebewesen anstreben, sie warnen, scheuchen und vergrämen.
Vielleicht ist eine vollautomatisierte Welt eine bessere. Sie nimmt weniger Tote in Kauf, unter Menschen und Tieren. Vielleicht gelingt es in ihr sogar, die Mortalitätsrate drastisch zu senken. Vielleicht ist eine vollautomatisierte Welt zugleich eine schlechtere. Die Automatisierung bei Automobilen bedeutet mehr und mehr deren Autonomie. Die Autonomie der Maschinen verdrängt, ein klassisches Thema von Informations- und Technikethik, die Autonomie der Menschen. Den Menschen wird etwas aus der Hand genommen, wie im Falle der elektrischen Feststellbremse, die die konventionelle Handbremse ersetzt, und beim selbstständig fahrenden Auto wird mit Hilfe von Daten und Algorithmen nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch der Weg diktiert. So transformiert das Fahren zum Gefahrenwerden, und es ist nicht einmal mehr der Bus- oder Zugfahrer, der am Steuer sitzt, oder der Taxifahrer oder Chauffeur, um im Bild und im PKW zu bleiben. Es ist das Assistenzsystem, das eigentlich das Chefsystem ist, es ist der Roboter, der sich als Auto verkleidet hat.
Am Ende kommt es auf die Akzeptanz und die Nachfrage der «User» an. Die Unternehmen können noch so viel anbieten, die Wissenschaftler noch so viel forschen. Wenn der Fahrer seinen Handlungs- und Spielraum unter allen Umständen behalten will, wird es kaum zu Durchbrüchen kommen. Es sei denn, die Politik stellt neue Weichen. Auf jeden Fall werden die Experten auf dem Papier einige Probleme lösen, andere dagegen nicht. Den Schmetterlingen in Madeira kann weder ein Assistenzsystem noch ein Roboterauto helfen. Höchstens ein Innehalten des Fahrzeugs, das nicht im Sinne des Erfinders ist und auch nicht im Sinne des Benutzers. Oder ein Verschwinden der Technik, des Menschen überhaupt. Ob eine solche Welt eine bessere wäre, darüber lässt sich streiten.
Über den Autor
* Oliver Bendel ist Philosoph und Wirtschaftsinformatiker. Er lehrt und forscht als Professor für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule für Wirtschaft in Brugg und Olten (Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW), mit den Schwerpunkten Wissensmanagement, Social Media, Mobile Business, Informationsethik und Maschinenethik. Weitere Informationen über www.oliverbendel.net, www.informationsethik.net und www.maschinenethik.net.